Ursachen-Analyse der Finanzkrise 2008

Finanzmarktpolitische und regulatorische Ursachen der Finanzmärkte

 

Beitrag für die Zeitschrift Ecolex, Jänner 2009

Finanzmärkte tendieren schon aus den ihnen zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten zu beachtlicher Volatilität. Immer wieder kehrende spekulative Ausuferungen in unterschiedlichen Investitionsbereichen sind daher typisch.

Die konsequente Liberalisierung der zuvor in ihrer Freizügigkeit stark eingeschränkten Finanzmärkte begünstigt supranationale/globale Transaktionen und damit die Übertragung von Finanzmarktbewegungen – sowohl Aufschwünge als auch Krisen – aus Teilmärkten in andere Märkte.

Überall verfügbare elektronische Kommunikations- und Dispositionssysteme erleichtern die internationale Vernetzung und haben die Transferkosten für Finanzmarkttransaktionen stark gesenkt. Die neuen technischen Möglichkeiten tragen zur Ausbreitung automatisierter Programm- und Veranlagungsroutinen bei.

Auch steigt die Schwungmasse der eingesetzten Finanzmittel mit der Zunahme von kapitalmarktorientierten Veranlagungs-, Pensions- und Versicherungssystemen. Die Schwankungstiefe- und –Breite von Aufschwüngen und Abschwüngen nimmt aus diesem Grund tendentiell ebenfalls zu.  

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen wäre es finanzmarktpolitisch geboten, keine Systemanreize zu setzen, die über die für Finanzmärkte typischen Grundrisiken hinaus zu erhöhten  vermehrter Spekulation und Marktschwankungen beitragen.

Dennoch ist gerade dies in den vergangenen Jahren sowohl im Bereich der Bilanzierungssysteme als auch im Regulierungssystem geschehen. Beide Systeme haben in den letzten Jahren eine stark prozyklische Wirkung gezeigt und damit maßgeblich zur Herausbildung der aktuellen Finanzmarktkrise beigetragen.  

Die Prozyklizität von Bilanzierungssystemen und Bankenregulierung erweist sich sogar als eine entscheidende Ursache für die Dimension und Dauer der Finanzmarktkrise.

Marked to Market: Der Spekulationshebel der Marktpreis-Bewertung

Der entscheidende prozyklische Anreiz zu spekulativen Dispositionen auf den Finanzmärkten liegt im Bilanzierungsprinzip der Marktpreis-Bewertung („marked to market“). Dieses Bewertungsprinzip hat mit dem Ersatz der gläubigerorientierten Bilanzierungssysteme (traditionellerweise HGB/UGB) durch die kapitalmarkt- und vermeintlich anlegerorientierten Bilanzierungssysteme (IFRS, US-GAAP) Einzug gehalten. Es beruht auf der – in der Kapitalmarkttheorie zunächst bestechenden – Annahme, jeder Vermögensbestand ließe sich jederzeit zu seinem Marktwert bewerten und dementsprechend als Bilanzposition abbilden. Dem Erfordernis von Transparenz und Offenlegung stiller Reserven gegenüber dem Anleger wird damit vordergründig Rechnung getragen.

Die Prozyklizität dieses nur auf den ersten Blick überzeugenden Ansatzes ist jedoch stark ausgeprägt. Sie wirkt sowohl im Aufschwung wie auch im Abschwung nicht nur  linear sondern sogar progressiv. In besonderer Weise gilt dies für die Wirkung der kapitalmarktorientierten Bilanzierungsprinzipien in Bankbilanzen und damit auf das Finanzmarktsystem.

Vor allem Banken und sonstige Kapitalmarkt-Investoren wurden unter dem Einfluss der Spielregeln der Kapitalmärkte in den vergangenen – etwa zehn – Jahren immer stärker nach Erfolgs-Kennzahlen gesteuert. Insbesondere die Eigenkapital-Rendite (Return on Equity / ROE) spielte dabei eine Schlüsselrolle. Es galt, den Ertrag bezogen auf das eingesetzte Eigenkapital zu maximieren.

Um zu gewährleisten, dass diese Maximierung nicht dadurch geschieht, dass extrem knappen Eigenmitteln ein zu hoher Fremdmittel-Hebel (Leverage) gegenübersteht, haben sich im Banksystem Mindest-Eigenmittelquoten herausgebildet, die es in Relation zu den jeweiligen Fremdmitteln jedenfalls vorzuhalten galt. Die Kernkapitalquote als entscheidende wachstums-limitierende Größe musste – auch aus der Sicht der die Gläubigereinschätzung prägenden Rating-Agenturen – stets ein als angemessen erachtetes Niveau aufweisen.

Das Konstant-Halten dieser Kernkapitalquote bzw. eines korrespondierenden Leverage-Niveaus erweist sich vor dem Hintergrund der Wirkungsweise der „marked to market“-Bilanzierung allerdings als Scheinsicherheit. Zur wirklichen Solidität der Bankbilanzen hat dieser Grundsatz leider nur wenig beigetragen. Vielmehr hat er implizit ihr oft inflationäres Wachstum sogar dramatisch gefördert.*)

Das Prinzip der Bepreisung von Assets nach Marktpreisen wirkt stark progressiv in Richtung Bilanzerweiterung. Durch die verstärkte Nachfrage nach Assets werden deren Preisniveaus im Boom nach oben getrieben und die positiven Markt(preis-)erwartungen prozyklisch verstärkt. Darin liegt ein entscheidender Verstärker für das Auftreten von Asset-Bubbles.

Entlang mit der progressiven Ausweitung der Bilanzen im Boom erhöht sich mit dem Aggregat der wachsenden Bilanzen die (Buch-)Geldmenge. Mit den steigenden Asset-Preisen und der damit ständig weiter in die Höhe getriebenen Investitions- und Verschuldungskapazität nimmt diese Geldmenge im Aufschwung massiv zu. Die progressiv wachsenden Buchgeld-Wertegebirge türmen sich ins Unermessliche, allerdings wohlgemerkt stets unter Wahrung der auch von den Rating-Agenturen für solide eingeschätzten, unverändert „konservativen“ Eigenmittel- bzw. Leverage-Quoten.  

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*)     Der Grund für diesen Mechanismus ist einfach dargestellt. In einer fiktiven Bilanz seien auf der Aktivseite Vermögensbestände (Assets) von 100 eingestellt. Passivseitig stehen 10 Eigenmittel 90 Fremdmitteln gegenüber, die Eigenmittelquote beträgt also 10 Prozent. Anders ausgedrückt: der Leverage (Relation Assets zu Eigenmitteln) beträgt 10. Erhöht sich nun die Marktbewertung der Assets um 1 auf 101, stehen daraus resultierend Eigenmittel von 11 Fremdmitteln von 90 gegenüber. Steuert man die Bilanz über einen konstanten Leverage von 10, so ergibt sich ein Spielraum zur Bilanzerweiterung durch Erwerb von zusätzlichen Assets bei gleichzeitiger Anhebung der Verschuldung. Bei Assets von 110 auf der Aktivseite und Schulden von nunmehr 99 ist die alte Relation und damit der angepeilte Leverage von 10 wiederhergestellt. Ein Anstieg der Marktbewertung der Assets um 1 (!) Prozent hat also genügt, um die Bilanzsumme um 10 % steigern zu können. Und zwar ohne die Eigenmittel „wirklich“ (etwa durch Innenfinanzierung oder Kapitalzufuhr) erhöht zu haben.)

       Näheres zu den prozyklischen Effekten siehe:

T. Adrian / H. S. Shin, Liquidity and Leverage, paper prepared for the 6th BIS Annual Conference, “Financial System and Macroeconomic Resilience”, June 2007.

Hybride Eigenmittel als ergänzender Wachstumstreiber

Die geschilderte, prozyklisch und sogar progressiv auf  extensives Bilanzwachstum hin wirkende Bilanzierung nach dem „marked to market“ – Prinzip war den Finanzmarktteilnehmern noch nicht genug. Wo das innenfinanzierte Wachstum der Eigenmittel oder deren Zuführung über Kapitalerhöhungen von außen nicht ausreichte, gab es Möglichkeiten, echte Eigenmittel durch hybrides Eigenkapital (Nachrangkapital, Partizipationskapital etc.) zu ergänzen. Die Bereitschaft, sich solche Mittel gegenseitig zur Verfügung zu stellen bzw. bei (vor allem institutionellen) Anlegern einzuholen, nahm im Aufschwung deutlich zu. Damit erhöhte sich während der letzten Jahre die Möglichkeit, den Fremdmittel-Hebel (Leverage) noch weiter auszufahren, deutlich.

Sinkende Eigenmittelquoten und Management-Incentives als zyklische Verstärker

Eine weitere Verstärkung der angeführten Effekte ergibt sich aus der Tatsache, dass sich während der Expansionsphase des Finanzsystems die Gewohnheit herauskristallisierte, tendentiell eher niedrigere Kernkapitalquoten als solide anzusehen. So galten zuletzt Eigenmittel- (Kernkapital-)quoten von rund 7 bis 9 Prozent als ausreichend.   

Diese Inkaufnahme niedrigerer Eigenmittelquoten kam dem Erfordernis, den Return on Equity (ROE) zu steigern, natürlich entgegen. Sie ermöglichte eine noch bessere Erfüllung der Zielsysteme von Incentive-Strukturen bei Manager-Gehaltssystemen. Die meisten Boni, welche zusätzlich zu einem Fixgehalt gezahlt wurden, orientierten sich fast ausschließlich an (bewertungsabhängigen) Ertragserfolgen, an der Kursentwicklung kapitalmarktorientierter Unternehmen und eben an Kennzahlen wie dem ROE.

Basel II als regulatorischer De-Stabilisator des Bankensystems

Bis heute herrscht die Auffassung vor, das Regulierungssystem von Basel II trage entscheidend zur Stabilisierung der Finanzmärkte bei. Es gibt sogar Stimmen aus dem Kreis der Vordenker dieses Regelwerkes, dass die Finanzmarktkrise sogar vermieden hätte werden können, wäre nur Basel II schon vollständig umgesetzt gewesen.

Leider ist jedoch das Gegenteil der Fall. Basel II erweist sich ebenfalls in wesentlichen Punkten als stark prozyklisch, so dass es sich in Verbindung mit den bisher angeführten, vom Marktwert-Prinzip verursachten Zyklus-Treibern  als gefährlich und destabilisierend erweist. Das neue Regulativ selbst wird damit zum Krisenverstärker, statt im Abschwung zur Finanzmarktstabilität beizutragen.

Vereinfacht dargestellt liegt das Problem auch hier in der starken Bezugnahme auf Wertfeststellungen, die von der Natur der wirtschaftlichen Dynamik her nur augenblicksbezogen sein können, im Regulierungssystem aber als Datum für die Festlegung der Eigenmittelerfordernisse einer Bank herangezogen werden, nämlich den Bonitätseinstufungen nach Rating-Klassen.

Dabei ist auch hier der Grundansatz plausibel: Basel II sollte im Unterschied zu seinem Vorgänger Basel I von der einheitlichen Unterlegung von Ausleihungsrisiken von Banken mit einheitlichen 8 Prozent abrücken und im Gegensatz dazu eine differenziertere Eigenmittelunterlegung ermöglichen. Die Aktiva der Bank sollten entlang ihrer aktuellen Rating-Einstufung nach Risiko gewichtet werden („risk weighted assets“/RWA), um danach die jeweiligen Eigenmittelerfordernisse präzise ausrichten zu können.

Risiken mit einer hohen Bonitätseinstufung bzw. einem erstklassigen Rating sollten der Intention von Basel II nach mit weniger Eigenmitteln unterlegt werden müssen. In der anspruchsvollsten Ausprägungsform bei Grossbanken, nämlich dem auf internen Ratings basierenden (IRB-)Ansatz, ergab sich daraus für die Finanzmanager ein weiterer Ansporn, die knappen Eigenmittel durch Fokussierung der zusätzlichen Assets auf höhere Risikoklassen so effizient wie möglich einzusetzen.

Nun ist die Einstufung der Ausleihungen bzw. Asset-Portfolios von Banken nach Risikokategorien entlang von Rating-Klassen vom Grundsatz her eine durchaus sinnvoll Angelegenheit. Noch nie hatten die Banken einen so präzisen Überblick über den jeweiligen Risikostatus aller Teil-Portfolien wie heute. Wo nicht die externen Rating-Agenturen ihre Benotung liefern, arbeiten bankinterne Risikoanalyse-Teams an Rating-Einstufungen jedes einzelnen Engagements. Mit dem Vorteil, dass sich daraus etwa in der Unternehmensfinanzierung klare Schlüsse für die notwendige Mindest-Bepreisung des Risikos gegenüber dem Kunden ergeben. Je geringer das Unterlegungserfordernis mit Eigenmitteln – ihr Einsatz musste entlang der in den vergangenen Jahren immer anspruchsvoller gewordenen quantitativen Ziele von zumindest 15 Prozent ROE entsprechend abgegolten werden – desto günstiger die geforderte Zinsmarge.

Die eigentliche, im Zusammenhang mit der Finanzmarktkrise erst wirklich augenscheinlich gewordene Problematik liegt auch hier – wie zuvor bei den Bilanzierungssystemen – in der extremen Prozyklizität des Systems von Basel II. Schon während der Schaffung des Regelwerkes wurde darauf von Skeptikern durchaus hingewiesen, das Baseler Komitee und mit ihm alle politischen Adressaten, die das System später zur Verpflichtung machten, ließen sich jedoch trotz vereinzelter warnender Stimmen nicht vom einmal eingeschlagenen Weg abbringen.

Prozyklisch heißt bei Basel II: im Aufschwung führen sinkende Ausfallquoten und zunehmend besser werdende Bonitäten aller Assets dazu, dass bei entsprechend steigenden Rating-Einstufungen die zur Risikounterlegung erforderlichen Eigenmittel immer geringer werden. Der relative Verbrauch an „Risk weighted assets“ geht also im Boom zurück und schafft damit weiteren Spielraum für die Ausdehnung der Bilanzen und wiederum progressiv erweiterte Buchgeldschöpfung. Die Auswirkungen im Abschwung wirken nun mit verheerender Dynamik in die gegenteilige Richtung.  

Wesentliche Teile jener Mittel, die seitens der europäischen Staaten für die Eigenmittelstärkung der Banken zur Verfügung gestellt werden, werden – unabhängig von zu erwartenden Wertberichtigungen – 2009 allein dadurch verbraucht, dass in allen nach dem IRB-Ansatz bilanzierenden Banken die erwarteten Herabstufungen der Ratings („rating-shift“) zusätzliche Eigenmittel binden, die naturgemäß nicht für die Ausreichung neuer (ebenfalls mit Eigenmitteln zu unterlegenden) Kredit- oder Garantielinien verfügbar sind.

In dieser die Eigenmittel im Abschwung verzehrenden regulatorischen Dynamik liegt – zusätzlich zu den nach wie vor virulenten Liquiditätsproblemen im Gefolge des weitgehenden Ausfalls der Kapitalmärkte nach der Lehmann-Insolvenz im September 2008 – ein zweiter entscheidender Grund für die massive Kreditkrise mit all ihren verheerenden Auswirkungen auf die Realwirtschaft. Solange dieser Zusammenhang nicht auch in der öffentlichen Diskussion als ursächlich für diese Kreditkrise angesehen wird, darf nicht verwundern, wenn Unternehmen und Medien zu wenig Verständnis für die Kreditzurückhaltung der Banken haben.

Das süsse Gift der synthetischen Wertpapiere (ABS und CDS)

Die Begeisterung der Schöpfer von Basel II ging so weit, dass sie sogar nahe legten, zugunsten der Unbestechlichkeit der Risikoeinschätzung die marktbetreuenden Mitarbeiter von  Banken von den risikobeurteilenden Mitarbeitern zu trennen. Diese konsequente Trennung von Markt und Marktfolge, wie sie zuletzt sogar zur gesetzlichen und finanzmarktrechtlichen Auflage wurde, brachte allerdings einen Verzicht auf fast alle asymetrischen Informationen mit sich, die sich aus der Nähe zum Kunden ergeben. Für die Entwicklung der Kreditrisiken in den Banken erweist sich dieser von den Regulatoren erzwungene Verzicht auf außerhalb der „hard facts“ einer Bilanz durch Markt- und Kundennähe gewusste „soft facts“ als nachteilig.

Mit der Ausrichtung der Regulierungssysteme an der weltweit verständlichen Risikosprache der Ratings wurden diese zum eigentlichen Schlüssel der globalen Handelbarkeit von Risiken. Plötzlich schien es möglich, objektivierte Risiken auch aus jenen Finanzmärkten in die Bücher zu nehmen, in denen man als Bank selbst nicht präsent war. Dem wegen des Treibsatzes der Marktbewertungen im Boom immer unersättlicher werdenden Appetit der Banken nach zusätzlichen Assets wurde damit Nahrung gegeben. Gleichzeitig ließ sich der Aufbau solcher Investitionsbücher in fremden Unternehmens- und Bankenmärkten als Risikostreuung im Bankenportfolio argumentieren.

Als Basel nun den bestbewerteten Papieren auch noch das Privileg geringerer Eigenmittelerfordernisse zuschrieb, löste das einen Veranlagungsboom in Drittmärkten aus. Schon in den Jahren vor der endgültigen Einführung von Basel II führte das Versprechen einer kommenden Eigenmittelentlastung deshalb zur Neuorientierung der Veranlagungspolitik der Banken. Traditionelle (meist in den mittleren Rating-Stufen gehäufte) Unternehmensrisiken verloren an Attraktivität, wohingegen das Motiv der künftigen Eigenmittelentlastung zu einer starken Zunahme der erst vor gut zehn Jahren entstandenen Kategorie der sogenannten „synthetischen“ Wertpapieren führte.

Im wesentlichen handelt es sich dabei um in Wertpapiere gebündelte Risiken einer Grundgesamtheit von zugrunde liegenden Einzelrisiken („asset backed securities“ – ABS). Diese Wertpapiere können entweder so erworben werden, dass ein Anteil an ihnen jeweils eine aliquote Risikoteilhabe quer durch das Gesamtportfolio der dahinter stehenden Assets darstellt. Oder – und diese Form war unter Rating-Gesichtspunkten und vor dem Hintergrund des Zieles, nur möglichst wenig Eigenmittel einsetzen zu müssen vorteilhafter – sie wurden in gedankliche Risikoschichten aufgesplittet. Daraus ergab sich die Möglichkeit, nur in eine bestimmte Risiko-Tranche eines Wertpapieres zu investieren – beispielsweise in jene, die einen Querschnitt durch die bestbesicherten Teile darstellten und deshalb von den Rating-Agenturen die höchsten Bonitätsnoten erhielten.

Immer sophistiziertere Konstruktionen führten zu einer fast unübersehbaren Vielfalt von Ausformungen synthetischer Wertpapiere, die fast alle auf die „Optimierung“ der regulatorischen Situation abzielten. Am besten war das mit eigenmittelschonenden Top-Ratings für bestimmte Risikoschichten erreichbar. Die Zinsmarge war für solche Veranlagungen zwar schmal – aber das korrespondierte ja mit den minimierten Eigenmittelkosten und brachte doch schöne Zusatzerträge.

Die Trennung von Markt und Risiko sowie die abstrakte Handelbarkeit von Risiken führte schließlich zur Entwicklung von Garantiepapieren (Credit default swaps / CDS), mit denen Ausleihungen einer Bank an einen bestimmten Schuldner durch Garantien einer anderen Bank gedeckt wurden. Derartige Garantien wurden plausiblerweise – weil nicht mit Liquidität unterlegt – unterhalb der Bilanz ausgewiesen. Gleichzeitig aber – und das stellt sich heute als schweres regulatorisches Versäumnis heraus – mussten sie nicht mit Eigenmitteln unterlegt werden.

Diese unplausible, mittlerweile korrigierte Regel erlaubte es, die ohnehin schon knappen Eigenmittel noch stärker mit Risiko zu belasten, ohne irgendeine Spielregel zu verletzen. Wenn man die Garantien nur für entsprechend gute Bonitätsklassen übernahm, durfte man zumindest auf dem Papier von einem attraktiven Zusatzgeschäft ohne weitere Liquiditätsbelastung und ohne Schmälerung der Eigenmittel ausgehen.

„Regulatory hedge“ – die Rolle der Sonderfinanzierungsgesellschaften

Spezialteams in den Investmentbanken dieser Welt enwickelten ständig neue Produkte, um die durch die Bilanzierungs- und Regulierungssituation möglichen Spielräume zur „Schonung“ von Eigenkapital und damit zur Alimentierung weiteren Wachstums auszureizen. In Präsentationsgesprächen bei Banken stellten sie Möglichkeiten vor, durch das, was schon in der Überschrift „regulatory hedge“ hieß, die gegebene regulatorische Situation bestmöglich zu nutzen. Alle diese Übungen wurden mit der durchaus ehrenwerten, für die Anleger und das eigene Incentive-Programm vorteilhaften Absicht unternommen, im Rahmen der geltenden Spielregeln die Profitabilität der Banken zu stärken und damit den „Shareholder Value“ zu maximieren.

Auf diese Weise wurden synthetische Wertpapiere häufig auch in außerbilanzielle „special investment vehicles“ investiert. Derartige Investitionsgesellschaften waren nicht konsolidierungspflichtig, befanden sich meist auf Steuer-Inseln mit dem Vorteil geringerer Ertragsbesteuerung, und erlaubten eine noch weiter gehende Verlängerung des (Fremd-)Finanzierungshebels auf knappe Eigenmittel. Für die prüfenden Finanzmarktaufsichtsbehörden stellten diese Sonder-Investitionsgesellschaften, die sich auf den Kapitalmärkten meist kurzfristig über Commercial Paper Programme refinanzierten, lange Zeit kein Objekt der Sorge dar. Trotz der sich dort immer höher türmenden Stapel anonymer Bilanzen dachte man nicht an die Einbeziehung solcher Finanzierungsgesellschaften in den Prüfkreis der Bankaufsichtsbehörden und Notenbanken.

Auswirkungen prozyklischer Bilanzierung und Regulierung in der Krise

Die Summe all dieser das Buchgeld zu immensen Summen vermehrenden Mechanismen bildete das Mainstream-Konstrukt der Finanzmarkt-Dynamik der letzten zehn Jahre. Es handelte sich auf weite Strecken um ein in sich geschlossenes Denk- und Arbeitssystem. Die Gefahr, dass die vollständige Kapitalmarktorientierung mit ihren Augenblicksbewertungen wegen ihrer inhärenten Prozyklizität mehr als eine vorübergehende Gefahr darstellen könnte, wurde verdrängt. Und zwar nicht nur von den Spielern am Kapitalmarkt selbst, sondern auch von weiten Teilen der Finanzwissenschaft, der Medien, der Anleger, der Regulatoren und der Politiker.

Bis zum Platzen der US-Subprime-Blase. In der von Alan Greenspan nach dem Zusammenbruch der New-Economy-Spekulation 2001 eingeläuteten Phase extrem niedriger Zinssätze waren Wohnbaukredite in der Erwartung weiterhin steigender Wohnhauspreise an oft zweifelhafte Schuldner ausgereicht worden. Die Kredite wurden in der Folge in synthetische Wertpapiere verpackt, von den Rating-Agenturen, fein säuberlich in Risikoschichten aufgeteilt, mit attraktiven Ratingnoten versehen und an zahllose veranlagungssuchende Gläubiger in aller Welt weitergereicht.

Im Frühjahr 2007 – zuvor waren die US-Zinsen in mehreren Schritten angehoben worden, was die Rückzahlungsfähigkeit der Wohnbaudarlehen zusehends einschränkte – wurden die spekulativen Preiserwartungen in die privaten Wohnhausmärkte erstmals gebrochen. Die ersten Kredite mussten fällig gestellt werden, die Haus-Preise gingen zurück, die synthetischen Papiere durchliefen einen ersten realen Stress-Test. Nach den ersten Ausfällen höher riskierender Tranchen sank die Investitionsbereitschaft von Investoren in Subprime-ABS rapide.

Im Sommer 2007 wurde erstmals in Europa sichtbar, dass nicht nur subprime-Papiere betroffen waren, sondern das Vertrauen in die Welt der synthetischen Wertpapiere an sich zusammenzubrechen drohte. Eine große Investitions-Sondergesellschaft im Vorfeld der Düsseldorfer IKB fand mit einem Mal keine Refinanzierungsmittel (Commercial Papers) mehr. Innerhalb weniger Tage musste die IKB selbst als Refinanzier einspringen. In der Folge machte der Wertverlust der Papiere verbunden mit dem plötzlich aufgetauchten Refinanzierungserfordernis die IKB zu einem Insolvenzfall.

Die Krise der synthetischen Wertpapiere begann sich in der Folge in sämtlichen Asset-Klassen fortzusetzen. Alle im Markt der synthetischen Wertpapiere engagierten Banken sahen sich hohen Wert-Verlusten ausgesetzt und hatten entsprechende Wert-Korrekturen vorzunehmen. Die Risikoaufschläge in den Märkten wurden höher, die Margen für Zwischenbankenfinanzierungen teurer.

Als besonders fatal erwies sich, dass die Verfügbarkeit von Liquidität für die Handelbarkeit der einzelnen Risikoschichten der synthetischen Wertpapiere immer als selbstverständliche, auf Dauer erhältliche Voraussetzung gesehen worden war. Mit einem Mal stellte sich heraus, dass der Vertrauensschwund in die Produktklasse der synthetischen Wertpapiere zu einem radikalen Rückgang der auf den Sekundärmärkten solcher Papiere handelbaren Volumina führte. Später wirkte die Kreditverknappung negativ verstärkend in die gleiche Richtung.

Nun begann die negative Prozyklizität erst recht extensiv wirksam zu werden. Die Abwertung der davor überbewerteten Papiere schlug enorme Löcher in die Bankbilanzen der Welt. Der damit einhergehende Eigenmittelverzehr löste den Zwang zu einem massiven Rückbau des babylonischen Gebildes aus, das in den Jahren davor geschaffen worden war.

So wie das anlagesuchende Kapital über Jahre die Werte in die Höhe getrieben hatte, führte nun der Zwang zum De-Leveraging, zur Rückführung der durch die Buchwert-Verluste immer länger gewordenen Fremdmittel-Hebel, zu einem extremen – wiederum progressiv beschleunigten – Wertverfall. Dieser wurde schon dadurch vorangetrieben, dass zu viele Marktteilnehmer gleichzeitig auf die Verkäuferseite drängten und damit die Marktwerte nach unten trieben.

Im Laufe des Frühjahrs und Sommers 2008 spitzte sich die Situation zu. Die großen Investmentbanken, in denen die Finanzmarktinnovationen am intensivsten bilanziell vertreten waren, realisierten so hohe Verluste, dass es zu ersten Eigentümer-Verschiebungen und massiven Interventionen der US-Finanzaufsichtsbehörden kam. Mit der Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers am 15.September 2008 wurde zum Entsetzen der  Finanzwelt eine Systembank bewusst fallengelassen, während in ihrer zeitlichen Umgebung sowohl AIG als Fanny Mae und zahlreiche andere systemrelevante Finanzinstitute vom US-Staat gerettet wurden.

Seit dem 15.September 2008 – ich nenne diesen fatalen Stichtag mittlerweile „nine fifteen“ – kam es durch einen vollständigen Vertrauensverlust zum faktischen Stillstand aller Zwischenbanken-Ausleihungen. In der Folge entwickelten die Regierungen ergänzend zum konstruktiven Zusammenspiel der Notenbanken Rettungspakete. Diese enthielten Instrumente zur Liquiditätssicherung, zur staatlichen Anleihengarantie, für öffentliches Beteiligungskapital und – als letzte Möglichkeit in Sonderfällen – zur Verstaatlichung von Banken.

Die Wertvernichtung in den Bilanzen führt seither permanent zur weltweiten Abwertung gegenseitiger Ansprüche zwischen den Banken. Weil sich gleichzeitig deren Ratings deutlich verschlechtern, erhöhen sich die Ansprüche der Märkte an die Bonität.

Mit einem Mal wird eine Kernkapitalquote von 10% und darüber wieder als Mindestausstattung zur Kapitalmarktfähigkeit angesehen – also um etwa ein Viertel mehr, als die im Boom für solide Banken als ausreichend angesehene Quote von 7 bis 8 Prozent. Allein dieses zusätzliche Erfordernis kann – soferne die dafür notwendig Kapitalzufuhr nicht durch Kapitalerhöhungen erfolgen kann – nur durch eine aliquote Rückführung der Assets (und damit der risk weighted assets) erfüllt werden. Dies kann entweder durch Verkauf von Assets erfolgen – was einen weiteren Wertefall der längst überforderten Asset-Märkte auslöst. Oder sie erfolgt durch eine extreme Kredit-Zurückhaltung, also ein Rückführen der Risk weighted assets im Umfang der Tilgungen und deutlich vermindertes Neugeschäft.

Basel II verstärkt diese Kontraktion der Bilanzen ein weiteres Mal, in dem es nach dem IRB-Ansatz fordert, dass aufgrund schlechter gewordener Rating-Einstufungen auftretende, regulatorisch veranlasste Risiko-Deckungslücken mit zusätzlichen Eigenmitteln aufgefüllt werden. Solche Eigenmittel sind in der Krise aber nur schwer erhältlich – sodass die letztlich wiederum krisenverschärfende Antwort nur lauten kann: weitere Kreditzurückhaltung sowie weiterer Verkauf von Assets unter Inkaufnahme neuer Wertberichtigungen und zusätzlicher Eigenmittelschäden. Auch hier ist der regulatorische Ansatz, bezogen auf das einzelne Bankinstitut, durchaus nachvollziehbar. Gesamtwirtschaftlich wirkt er allerdings kontraproduktiv – eben weil die eingebaute Prozyklizität einen systemischen Baufehler darstellt.  

Besonders drastisch zeigen sich die angeführten systemischen Effekte am Beispiel der Immobilienbranche. Es ist kein Zufall, dass börsennotierte Immobilienfonds gerade auch am Finanzplatz Wien extreme Wert- und Kursausschläge gezeigt haben. Die eingangs angeführten Hebelwirkungen von Bewertungen haben die Kurse massiv nach oben getrieben und zu umso intensiveren Rückschlägen in der Krise geführt.

Warum hat das niemand verhindert?

Zum heutigen Zeitpunkt lässt sich noch nicht abschätzen, wann der Abbau der Buchwerte und die Redimensionierung der Bankbilanzen in dem Sinn abgeschlossen sein wird, dass wieder eine nachhaltig tragbare und deshalb vernünftige Relation des Bankensystems zur Realwirtschaft erreicht ist. Die systemischen Verwerfungen sind derart intensiv, dass wir jedenfalls von einer mehrjährigen Periode des Abschmelzens von Buchwerten und der sukzessiven Regeneration der massiv getroffenen Realwirtschaft auszugehen haben. 

Die Realwirtschaft wird mehrfach von der Finanzmarktkrise getroffen: einerseits durch die Kaufzurückhaltung jener Anleger, die in der Finanzmarktkrise direkt oder indirekt (etwa über sinkende Pensionskassen-Ausschüttungen) Geld verloren haben, andererseits durch die akute, die Unternehmen schockartig treffende Kreditkrise mit ihrer doppelten Verursachung durch illiquide Zwischenbanken-Märkte und die geschilderten regulatorischen Krisenverstärker.  

Die dadurch ausgelösten rezessiven Entwicklungen, die möglicherweise sogar zu einer weltweiten Depression führen, sind fast ausschließlich exogen, nämlich durch die Finanzmarktkrise, verursacht.  Es verwundert daher nicht, wenn die davon betroffenen Unternehmen, ihre durch Arbeitsplatzverluste geschädigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ja die gesamte Öffentlichkeit und mit ihr Politik und Medien immer drängender die Frage nach den Ursachen dieser menschengemachten Wirtschaftskatastrophe stellen.

Ich meine, dass weder der Erklärungsweg über die außer Rand und Band geratene Gier von Finanzmanagern und Anlegern die Antwort bringt, noch der Versuch, das Verhalten der  Marktteilnehmer ex post zu kriminalisieren. Ja, es gab nicht wenige, die vorhandene Spielregeln so exzessiv überdehnt haben, dass sie sich damit nicht nur charakterlich disqualifiziert, sondern sogar die Grenzen der groben Fahrlässigkeit überschritten haben. Und es gab Einzelne, die die Spielregeln mit krimineller Energie bewusst missbraucht haben und damit zum Fall von Strafgerichten wurden.

Aber die ganz große Mehrzahl aller Professionals im Bereich der Finanzinstitutionen, der Wirtschaftsprüfer, der Rechtsberater, Medien, Regulatoren und Politiker hat das Jahrzehnt der Kapitalmarktorientierung mit gutem Willen mitgestaltet, nach Kräften optimiert, Regeln eingehalten, Kontrollvorschriften befolgt. Die Erklärung muss daher auf einer übergeordneten, systemischen Ebene liegen.

Meine persönliche Überzeugung ist, dass mit dem seit gut zehn Jahren eingeschlagenen, dem europäischen Bankensystem bis dahin fremden Weg der ausschließlichen Orientierung an den Kapitalmärkten und ihren Bewertungsprinzipien  ein fehlerhafte Entwicklung eingeleitet wurde, die von ihren systemischen Ursachen her zu korrigieren sein wird, wenn wir diese Krise überwinden und das Entstehen der nächsten Krisenherde schon im Ansatz verhindern wollen.

Die Finanzmarktarchitektur der Zukunft muss der in modernen, liberalisierten Märkten ohnehin unvermeidbaren Tendenz zur Volatilität und zu spekulativen Übertreibungen vor allem solche Regulative entgegensetzen, die zumindest zyklus-neutral sind oder sogar bewusst Elemente zum gegenzyklischen Ausgleich enthalten. Aus diesem Grund liegt der vordringlichste Ansatz zu einer systemischen Korrektur in der Beseitigung der aufgezeigten Prozyklizität unserer Bilanzierungs- und Regulierungssysteme.

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