Rating-agenturen in der Krise

Unfehlbar oder überfordert? Zur Rolle der Rating-Agenturen in der Krise

 

Beitrag für „Aufsichtsrat aktuell“ August 2011 

Mit ihrer bestimmenden Funktion in den Regelwerken des Bankensystems wurde den Rating-Agenturen von den Bankaufsehern und Finanzpolitikern eine schicksalhafte Rolle als Welt-Finanz-Schiedsrichter zugeschrieben. Heute wissen wir, dass sie mit dieser Rolle überfordert sind.

Der richtige Schluss muss lauten, den Mythos ihrer Unfehlbarkeit zu beenden und den zwingenden Einfluss ihrer Bonitätsprognosen auf die zentralen Regelwerke des Finanzsystems zu kappen. Dann könnten sie sich ganz unspektakulär wieder auf ihre Kernaufgabe konzentrieren, Gläubigern eine Einschätzung über die Ausfallrisiken eines Schuldners zu geben.

Ratings von Euro-Staaten: parteilich oder realistisch?

Je mehr sich die Verschuldenskrise der Euro-Staaten zuspitzt, desto stärker kommen die drei großen Rating-Agenturen Standard&Poors, Moody´s und Fitch in die Kritik. Denn während sich die USA bei einem Verschuldungsgrad von fast 100 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung und einer Netto-Neuverschuldung von mehr als 10 Prozent höchster Bonitätsbenotungen erfreuen dürfen, werden europäische Länder dem Anschein nach meist gerade dann um eine oder gar mehrere Bonitätsstufen abgewertet, wenn an dem der Ankündigung vorangehenden Wochenende die Einigung über ein neues Hilfspaket oder konkrete Schritte zur Haushalts-Konsolidierung gelungen sind. Zuletzt war das Anfang Juli dieses Jahres bei der Herabstufung Portugals und Irlands der Fall. Erstmals sah sich sogar Kommissionspräsident Manuel Barroso dazu veranlasst, von höchster Stelle der Europäischen Union scharfe Kritik an dieser als verantwortungslos eingestuften Praxis der Agenturen zu üben.

Geradezu paradox nimmt sich der definitorische Streit um den möglichen Pleite-Status Griechenlands aus, der es der Europäischen Zentralbank nach den von ihr sich selbst auferlegten Regeln unmöglich gemacht hätte, weiter griechische Anleihen zu belehnen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, blockierte dieses Nomenklatur-Problem monatelang die von Deutschland geforderte Einbeziehung privater Gläubiger in die Sanierung des Griechenland-Problems. Erst anlässlich des Krisengipfels der europäischen Regierungschefs vom 21. Juli 2011 entschied sich die EZB zum Sprung über den Rating-Schatten und erklärte sich bereit, trotz deren Einstufung in der Kategorie „teilweiser Zahlungsausfall“ Griechenland-Anleihen anzukaufen, solange sie durch den Stabilisierungsfonds garantiert werden.

Die Forderung nach Schaffung einer eigenen europäischen Rating-Agentur, mit der das dominierende Oligopol der drei Marktführer aufgebrochen werden soll, gewinnt in jedem Fall an Gewicht. Fälschlicherweise wird sie mitunter sogar zu einem der Rezepte gegen die Krise hochstilisiert, obwohl eine neu gegründete Agentur von ihren eigentlichen Adressaten, den Kapitalmarktgläubigern, erst nach mehreren Jahren der Bewährung als eine um objektive Urteile bemühte Institution akzeptiert würde. Auch könnte eine solche Neugründung nichts am Faktum ändern, dass das Ausfallrisiko der Anleihen einer ganzen Reihe von Euro-Staaten seit der Finanzkrise höher ist als je zuvor.

Der Blick amerikanischer Rating-Agenturen auf die Finanzmarktpolitik im Euro-Gebiet mag mitunter einseitig sein. Ihre undiplomatisch nüchternen Urteile dürfen aber angesichts der Unschlüssigkeit der europäischen Finanzpolitik nicht verwundern. Man muss von europäischer Politik nicht so wenig verstehen wie die anglosächsisch geprägten Bonitäts-Schiedsrichter, um angesichts der schwer einschätzbaren Verhaltensmuster der (währungs-)politischen Entscheidungsträger verunsichert zu sein. Denn immer dann, wenn es um die zentrale Frage geht, ob das Staatsschuldenproblem eines Euro-Landes innerhalb der Euro-Zone gemeinsam zu lösen ist, oder ob die Verantwortung für die Wiedererlangung der Kapitalmarktfähigkeit ausschließlich beim einzelnen Staat liegen soll, laufen die Konzepte der maßgeblichen Politiker und Ökonomen diametral aus- und gegeneinander. Die unpopuläre, aber sachnotwendige Entscheidung, aus der Währungsunion unter dem Druck der Finanzkrise auch eine Fiskalunion zu schmieden, wird verdrängt und hinausgezögert.

Euro-Land vor dem Offenbarungseid

Die ersten Vorkehrungen gegen eine sich abzeichnende, systemische Euro-Krise erfolgten durchaus entschlossen. Im Mai 2010, knapp bevor die Banken aus Beunruhigung über mögliche Staatspleiten von den Sparern gestürmt zu werden drohten, entschieden sich Europas Politiker dafür, einen gemeinsamen Garantieschirm zu spannen. Im Herbst darauf, als Irland zum nächsten Bankrott-Kandidaten wurde, musste dieser auf seine heutige Größe von EUR 750 Mrd. ausgeweitet werden. Eine eigene Sondergesellschaft[1] wurde geschaffen, um unter dem Schutz dieser Garantien internationale Anleihen aufzunehmen. Deren Erlös wird unter entsprechenden Auflagen an gefährdete Staaten immer dann weitergegeben, wenn deren eigene Anleihen auf den Kapitalmärkten nicht mehr zu vertretbaren Kosten unterzubringen sind. Anleihen aller Euro-Länder sollen für drei Jahre gegen Zahlungsausfall gesichert sein. Gleichzeitig soll in diesem Zeitraum geklärt werden, wie man langfristig mit den Schuldenbergen fertigwerden will. Bald aber zeigten sich Risse sowohl in der mutigen Konzeption wie in Tempo und Qualität ihrer Umsetzung.

Denn das, was die für das politische Konstrukt „Euro-Land“ Verantwortlichen einst versprochen haben, können sie angesichts der von der Finanzkrise ausgelösten Turbulenzen nicht mehr halten. Verschuldungskrisen von Euro-Mitgliedsstaaten sollen zwar gemeinsam gelöst werden – aber ohne direkte Budgethilfen. Immer größere Garantieschirme untermauern die Fiktion des Zusammenhalts, während zugleich die „no-bail-out-Klausel“ aus den Gründungsdokumenten des Euro beschworen wird.

Der Preis für diesen konzeptionellen Spagat sind verunsicherte Kapitalmärkte hinsichtlich hoch verschuldeter Euro-Länder. Schon kursieren in den Wirtschaftsmedien Tabellen, aus denen hervorgeht, wer in welcher Höhe an Euro-Länder geliehen hat, die noch vor wenigen Monaten zu den für erstklassig gehaltenen Schuldnern gehörten und heute bereits als Wackelkandidaten beschrieben werden. Dafür, dass sie dem impliziten Euroland-Versprechen der Politik vertraut haben, müssen sich deren Gläubiger nun als Spekulanten bezeichnen lassen. Die beobachtenden Analysten, besonders begabt im nachträglichen Besserwissen, sind rasch mit der Bezeichnung „toxisch“ für die ehemaligen Wert-Papiere zur Hand. Man hätte doch von den Banken mehr Vorsicht bei ihren Engagements erwarten können. Nun sei es nur gerecht, dass sie zur Kasse gebeten werden.

Mit Italien, dem drittgrößten Schuldnerland der Welt, ist hier eine neue Dimension erreicht. Dass für Griechenland die Beteiligung privater Gläubiger erzwungen wurde, wird die Bereitschaft, unseren südlichen Nachbarn Geld zu leihen, deutlich vermindern. Angesichts eines sehr hohen Refinanzierungsbedarfs in der zweiten Jahreshälfte kann sich daraus der nächste Gefahrenherd entwickeln. Ähnlich gilt für die schon bekannten Problemländer Portugal, Spanien, Irland und zuletzt Zypern.

Die als Folge der Unklarheiten über den Weg aus der Schuldenkrise verschärften Rating-Urteile gegen einzelne Euro-Länder werden sukzessive zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen. Denn als schlechtere Schuldner eingestufte Euro-Staaten erhalten – mit Ausnahme der Gelder aus dem Euro-Rettungsschirm – die zur Eindeckung über Neuemissionen erforderlichen Volumina nur mehr zu Zinssätzen mit prohibitiv hohen Risikoaufschlägen. Die durch kaum mehr leistbare Zinslasten weiter erhöhte Staatsschuld beschleunigt wiederum die Abwärtsspirale. Der Zeitpunkt, zu dem die Kapitalmarktreife der betroffenen Länder wiedererlangt werden sollte, verschiebt sich so in eine unbestimmbare Ferne. Wer investiert auch noch in Staatsanleihen, deren immer negativere Beurteilung durch die Kapitalmärkte und die Rating-Agenturen zur vorhersehbaren, baldigen Abwertung zwingt, und damit die Eigenkapitalsituation der Banken doppelt verschlechtert?

Die Stunde des Offenbarungseids für oder gegen ein Euro-Gebiet, das dauerhaft über einen echten Finanzausgleich, einen europäischen Währungsfonds und Euro-Anleihen verbunden ist, rückt jedenfalls näher. Alles andere als eine Weiterentwicklung in diese Richtung würde nicht nur einen folgenschweren Vertrauensbruch gegenüber den Gläubigern von Euro-Staaten darstellen sondern auch den Abschied von jener ambitionierten europäischen Architektur, die der Schaffung des Euro zugrundelag.

Vom europäischen Traum der erfolgreichen Gemeinschaftswährung bliebe nach einer Phase schwerster wirtschaftlicher Turbulenzen nur mehr ein auf die nationalen Kapitalmärkte zurückgeworfenes Patchwork ehemaliger Euro-Staaten. Alle Ambitionen, mit einer starken Euro-Währung den dahinter versammelten Volkswirtschaften mehr Durchschlagskraft im globalisierten Wettbewerb zu verleihen, wären damit endgültig Vergangenheit.

Von der Finanz- zur Staatsschuldenkrise

Im Mittelpunkt des Ringens um sachgerechte Lösungen stehen bisher fast ausschließlich die strukturellen Gründe der Staatsverschuldung in den einzelnen Ländern. Die Finanzkrise als ihr eigentlicher Auslöser wird jedoch fast vollständig ausgeblendet. Die Suche nach haltbaren Lösungen kann aber nur gelingen, wenn die Euro-Krise als Teil der Finanzkrise verstanden wird – andernfalls bleibt die Diskussion so bruchstückhaft und kasuistisch, wie wir sie derzeit erleben.

Die Rating-Agenturen stellen einen wichtigen Teil der systemischen Ursachenkette der aktuellen Krise dar, seit ihnen eine im Verhältnis zu ihren ursprünglichen Aufgaben übergewichtige regulatorische Rolle zugemessen wurde. Davon soll soll nach einem gerafften Rückblick auf das Entstehen der Krise die Rede sein.

Deren Vorgeschichte wurde mittlerweile oft erzählt: Internationale Großbanken und von ihnen beeinflusste Schattenbanken schufen in einem Umfeld ungezügelter Liberalisierung mit extrem hohen Fremdmittel-Hebeln und ebenso knapper Eigenmittelausstattung unglaubliche Mengen an geldwerten Ansprüchen, denen statt realer Wertschöpfung überwiegend spekulative Erwartungswerte zugrunde lagen.[2] In der Krise stand mit einem Mal ihre Einlösbarkeit in Frage. Als besonders ausfallgefährdet erwiesen sich sogenannte synthetische Wertpapiere. Diese von den Rating-Agenturen systematisch falsch eingeschätzten „Finanzinnovationen“ bilden bis heute den größten Anteil an den sogenannten „toxischen“ Beständen des Finanzsystems.

Im Anschluss an die Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 kam es zu rasanten Bewertungs- und Vermögensverlusten bei privaten und institutionellen Anlegern – wie Versicherungen und Pensionskassen – und bei den Banken selbst. Eine unmittelbare Folge davon war der stärkste Konjunktureinbruch seit den Dreißigerjahren.

Mit der Vertrauenskrise im Welt-Finanzsystem war auch der Wohlstand breitester Bevölkerungskreise gefährdet. Deshalb intervenierten die Regierungen in Abstimmung mit den Notenbanken und schnürten Garantiepakete. Sie liehen den Akteuren auf den Finanzmärkten jenes Vertrauen, das man damals in Staaten noch uneingeschränkt setzen konnte und brachten so den brachliegende Zwischenbanken-Kapitalmarkt wieder in Schwung. Die erforderlichen Bankenhilfspakete addierten sich mit den Konjunkturpaketen und den Kosten für die unverzichtbare Aufrechterhaltung der sozialen Sicherungssysteme zu einer erdrückenden Belastung für die öffentlichen Haushalte.

Die Staatsverschuldung stieg im Durchschnitt der Länder der Eurozone um deutlich mehr als ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes an – bei einzelnen Staaten wie Irland sogar um das Doppelte. Der Sonderfall Griechenland machte ungelöste institutionelle Fragen der Euro-Zone offenkundig und zog in der Folge das Misstrauen der Agenturen und internationaler Anleihezeichner in die Rückzahlungsfähigkeit auch anderer Euro-Staaten nach sich. Die Finanzkrise verlagerte ihren Schwerpunkt von einer Vertrauenskrise des Finanzsystems auf eine Vertrauenskrise der öffentlichen Haushalte.

Bemerkenswert ist, dass von der massiven Erhöhung der Staatsschuld durch die Finanzkrise jene Staaten am meisten betroffen waren, in denen die Bankenregulierung nach anglosächsischem Muster ausgerichtet war. Dies korrespondiert mit einer regulatorischen Begünstigung hoher Fremdmittelhebel und entsprechend niedriger Eigenkapitalausstattung sowie einem Zusammenspiel prozyklischer Wirkungen von kapitalmarktorientierter Bilanzierung und risikogewichteter Eigenmittel-Bemessung.[3] Verschont blieben hingegen fast alle „Emerging Economies“ Asiens und Südamerikas, aber auch die zentraleuropäischen Nachbarländer.

Rating-Agenturen als Finanz-Schiedsrichter: Unfehlbar oder überfordert?

Weder den Rating-Agenturen noch den Gläubigern von Euro-Staaten, die deren Schicksal bis vor kurzem noch viel positiver eingeschätzt hatten, ist vorzuwerfen, wenn sie wegen gesteigerter Ausfallrisiken solange mit Rating-Verschlechterung und Zurückhaltung von Anschlussfinanzierungen reagieren, bis das Problem grundsätzlich geklärt ist.

Gänzlich ins Leere gehen jüngste Vorschläge, die Rating-Agenturen künftig für Fehleinschätzungen haften zu lassen. Im Wesentlichen besteht ja ihre Aufgabe darin, Einschätzungen über die Wahrscheinlichkeit von Zahlungsausfällen von Schuldnern oder einzelnen Schuldtiteln zu geben, die als Indikatoren für die Risikoaufschläge von Finanzierungen dienen. Dass man ihren Bedeutungsgrad jedoch im Lauf der Jahre derart überhöhte, als handle es sich bei ihren Einschätzungen um objektive Gottesurteile, ist nicht den Agenturen zuzuschreiben, sondern den Regulatoren und der Politik, die ihnen diese Rollen fälschlicherweise zugemessen haben.

Das gesamte, unselige Regelwerk von „Basel II“ beruht ja auf der sogenannten „Risikogewichtung“, also der nach Rating-Klassen abgestuften „Unterlegung“ von Ausleihungen durch Banken-Eigenkapital. Wer jedoch eine Prognose-Größe – und nichts anderes ist eine Rating-Einstufung – als so verlässlich ansieht, dass er sie zur Messgröße der Kapitalausstattung des Bankensystems macht, darf sich nicht wundern, wenn die zu erwartenden prozyklischen Effekte auftreten: Überschätzung der Bonität im Aufschwung, Ausdünnung der Eigenmittel, immer längere Fremdmittelhebel und dann, nach Kippen der Situation in den Abschwung, rascher Ratingverfall, hoher Kapitalverzehr und prozyklische Brandrodungen in den Bankbilanzen.

Der wirksamste Hebel gegen die Übermacht der Rating-Agenturen und gegen die fatalen, systemischen Folgen ihres Tuns wäre es daher, ihre gesetzmäßige Verkoppelung mit den Eigenmittelerfordernissen der Banken endlich aufzuheben. In der Praxis jedoch geschieht das Gegenteil: Trotz eklatanter Einschätzungsfehler der Agenturen bei zahlreichen Finanzprodukten und manifester Unbeholfenheit bei manchen Länder-Ratings bleiben ihre Bonitätsurteile in dem fälschlich als Ausweg aus der Krise gepriesenen Banken-Regelwerk „Basel III“ auch in Hinkunft das Maß aller Dinge. Ihr nachweisliches Versagen bei der Beurteilung der US-Wohnkredit-Anleihen und anderer, sogenannter strukturierter Wertpapiere, die zum Mit-Auslöser der Finanzkrise wurden, wird ihr Blick in die Kristallkugel künftiger Risikoverläufe auch in Zukunft über die Bemessung der Eigenmittel-Erfordernisse von Banken bestimmen. Damit aber ist der Keim für die nächste und übernächste Finanzkrise gelegt.

Die kapitalmarktpolitische Funktion von Ratings

Finanzmarktökonomisch liegt die zentrale Funktion von Ratings im Abbau von Informations-Asymetrien der Marktteilnehmer. Mit anderen Worten: sie ermöglichen durch Etablierung einer im Markt bekannten Rating-Nomenklatur Investitionsentscheidungen über Veranlagungen, die von den Investoren andernfalls nicht in ausreichender Qualität beurteilt werden könnten. In umgekehrter Richtung erschließen sie den Emittenten Investorenkreise, die ohne Zwischenschaltung der Rating-Agenturen nicht ansprechbar wären.

Als Risikomakler in einer Welt offener Finanzmärkte schaffen sie demnach eine Referenz-Plattform für den Handel mit und den Tausch von Unternehmensrisiken. Marktvertrauen und Liquidität werden damit auf breiterer Basis verfügbar. Wegen ihrer Einfachheit ist ihre alpha-numerische „Marktsprache“ über alle Sprachgrenzen hinweg global geworden. Als kleinster gemeinsamer Verständigungs-Nenner zwischen Kapitalgebern und Kapitalnehmern objektivieren Ratings den Risikoaufschlag und damit die Kosten für Fremdmittel je nach Bonität und Laufzeit.[4]

In dieser Kernfunktion der Bonitätseinschätzung von Emittenten und deren Kapitalmarkt-Produkten haben sich die Rating-Agenturen im Verlauf der Jahrzehnte eine Reputation weitgehender Unabhängigkeit aufgebaut. Bei der Erarbeitung ihrer Urteile treten sie hier als Dienstleister gegenüber einer Vielzahl potentieller Kunden aus der Unternehmens- und Bankenwelt auf, von denen kein einzelner groß genug ist, um sie in ihrer Urteilsfindung zu beeinflussen. Dementsprechend valide fallen im Back-Testing die nachträglichen Überprüfungen der Treffsicherheit ihrer Einschätzung der Ausfallwahrscheinlichkeit von Ausleihungen (Anleihen und Kredite) an Unternehmen aus.

Vor dem Hintergrund positiver Erfahrungswerte mit statistisch verlässlich erscheinenden Ausfallprognosen entschieden sich die Mitglieder des Ausschusses für Bankenaufsicht in der Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel vor gut einem Jahrzehnt dafür, externe Ratings und ihnen nachgebildete interne Rating-Systeme von Banken zum unverrückbaren Maßstab des Risikogehalts einer Bankbilanz zu machen.

Der Sündenfall: Synthetische Wertpapiere

Zum Zeitpunkt der Konzeption von „Basel II“, als man die Entscheidung zugunsten der sogenannten Risiko-Gewichtung aller Ausleihungen traf, spielte die sogenannte „Verbriefung“, also die Bündelung von Forderungsbeständen zu Wertpapieren, in den Finanzmärkten noch eine untergeordnete Rolle. Ein knappes Jahrzehnt danach, im Jahr des Inkrafttretens 2007, hatte diese Veranlagungskategorie bereits ein spektakuläres Mengenwachstum hinter sich.

In diesem Bereich kehrte sich jedoch das Verhältnis der Rating-Agenturen zu ihren Kunden gegenüber dem im Unternehmensbereich üblichen geradezu um: Nur sehr wenige, große Investmentbanken beherrschten die komplexe Technik der Verbriefung („Securitization“). Sie gaben innerhalb kürzester Zeit eine Vielzahl von synthetischen Wertpapieren heraus, die alle einem Ratingprozess zu unterziehen waren, um auf den internationalen Märkten Abnehmer zu finden. Die Rating-Agenturen taten also gut daran, sich um ihre emissionsfreudigen Kunden zu bemühen und ihnen methodisch so weit wie möglich entgegenzukommen.

Eine Rating-history, auf der man hätte aufbauen können, gab es für synthetische Anleihen ohnehin nicht. Und so mussten finanzmathematische Modelle die Aufgabe übernehmen, die Ausfallwahrscheinlichkeiten der synthetischen Anleihen zu kalkulieren. Es ging dabei nicht nur um „Asset backed securities“ (ABS) auf Grundlage von Wohnbau- oder Autokrediten, sondern darüberhinaus um eine weitere Sonderkategorie strukturierte Papiere, die ihrerseits ein ganzes Bündel synthetischer Wertpapiere repräsentierten. Diese „Collateralized Debt Obligations“ (CDO´s) waren derart sophistiziert konstruiert, dass man sogar einzelnen Risiko-Schichten Rating-Noten zuordnete. Auf diese Weise wurde in einen rasch wachsenden Käufermarkt, der für die fast ausschließlich hoch benoteten – und deshalb Eigenmittel-„schonenden“ – synthetischen Papiere äußerst aufnahmefähig war, unzählige neue „Wert“-Papiere nachgeschoben.

Kurz vor dem Zusammenbruch dieser artifiziellen Märkte für synthetische Anleihen machten die Gewinne aus den dafür erstellten Ratings bereits mehr als vierzig Prozent der Gesamterträge der drei großen Agenturen aus. Die dabei eingerissenen Praktiken sind in den USA mittlerweile gerichtskundig[5]. Allein in den USA genossen mehr als 4.000 synthetische Wertpapiere Ratings der obersten Bonitätsstufen, in denen andererseits nur zwei Unternehmen der „Realwirtschaft“ aufschienen – so extrem war der Kontrast zwischen den auf Einzelunternehmen abgestellten traditionellen Firmenratings und den gegenüber nur wenigen Investmentbanken-Kunden erteilten Bonitätsnoten für synthetische Wertpapiere. Der rasante Aufbau des nach der Lehman-Insolvenz in sich zusammenbrechenden Kartenhauses wurde durch das auf Risiko-Gewichtung abstellende Baseler Regulativ gefördert anstatt verhindert.

Sowohl die Rating-Agenturen selbst als auch die sie in ihrer Rolle als bestimmende Größe für das Banken-Eigenkapital einzementierenden Regulatoren hatten die beim Aufbau dieser Sondermärkte entstandenen systemischen Risiken übersehen. Auch von den meisten Marktteilnehmern wurden sie verdrängt oder wegen der guten Benotung verharmlost.

Wie dramatisch falsch die Rating-Agenturen mit ihren Einschätzungen der synthetischen Wertpapiere lagen, zeigt sich am Beispiel der zwischen 2005 und 2007 begebenen Subprime-Anleihen. So lag der tatsächliche Ausfall in der Kategorie A beim mehr als Dreihundertfachen der vor der Finanzkrise getroffenen Einschätzung.

Basel III: vom Papiertiger zum Mousepad

Das im Entwurf mehr als 600 Seiten umfassende Regelwerk von Basel III, das auf dem Auftrag an seine Autoren beruht, künftige Finanzkrisen ähnlicher Größenordnung nach Möglichkeit zu vermeiden, gibt sich jedoch von dieser Faktenlage unbeeindruckt und geht über Systemkosmetik kaum hinaus. Zwar werden die Qualitäten des erforderlichen Kernkapitals künftig genauer festgelegt und leichte Anhebungen der Eigenmitteldecke vorgenommen. Auch gibt es Fortschritte hinsichtlich strengerer Eigenmittelvorschriften für Kreditgarantien (CDS) und Derivate.

Viel zu groß ist jedoch nach wie vor das Vertrauen in die Messbarkeit künftiger Risiken und die damit verbundene Abhängigkeit vom Urteil der Rating-Agenturen. Sie bleiben der Maßstab der Risikomessung und der gewichteten Eigenmittel-Unterlegung. Damit bleibt auch das gefährliche Prinzip der Risikogewichtung bestimmend. Die völlig ungenügende Begrenzung des Ausmaßes, in dem sich Banken verschulden und damit weitgehend unkontrolliert Kreditgeldschöpfung betreiben können, bildet das unvermeidliche Korrelat dazu. Erst 2018 (!) soll das Vielfache der Eigenmittel, bis zu dem Fremdmittel aufgenommen werden können („leverage ratio“), auf eine – viel zu hohe – Obergrenze von 33 limitiert werden, was einem „echten“ Eigenkapital-Prozentsatz von nur 3 Prozent entspricht. Kritische Experten sind sich darüber einig, dass die Obergrenze des Verschuldungsfaktors mit dem Zehnfachen des Eigenkapitals zu begrenzen wäre, wollte man das Bankensystem wirksam vor künftigen Zusammenbrüchen bewahren.

Die Bankenlobbys haben offenbar wirksame Arbeit geleistet und sichern sich ihre Spielwiesen für die nächste Welle an „Finanzinnovationen“, mit denen auch die kommende Regulierung wieder so weit wie möglich ausgereizt werden kann. Das viel diskutierte Regelwerk von „Basel III“, in das bis heute so hohe Erwartungen gesetzt wurden, erweist sich als technokratischer Papiertiger, der zu einem großen Sprung ansetzt, um – im sprichwörtlichen Sinn – als Mouse-Pad auf den Computertischen in den Handelsräumen der internationalen Großbanken zu enden.

Konzentration auf Kernaufgaben statt regulatorischer Überforderung

Nur tiefgreifende und daher auch spürbare, die Dimension der inflationär aufgeblasenen Finanzwirtschaft dämpfende Maßnahmen können uns nachhaltig aus der Gefahrenzone herausführen. Eine der wichtigsten davon wäre, die Rating-Agenturen ihrer dominanten Funktion in den Regelwerken des Bankensystems zu entheben. Seit der Krise wissen wir, dass sie mit dieser Rolle überfordert sind. Es gilt daher, den Mythos ihrer Unfehlbarkeit zu beenden und ihren zwingenden Einfluss auf die zentralen, über die Eigenmitteldecke der Banken bestimmenden Regelwerke zu beenden. Erst nach einer dahingehenden Korrektur werden sich die Rating-Agenturen wieder ganz unspektakulär auf ihre Kernaufgabe konzentrieren können, Gläubigern eine Einschätzung über die Ausfallrisiken eines Schuldners zu geben.


[1] EFSF – European Financial Stability Facility

[2] Zur Diskrepanz zwischen dem regulatorisch korrekt ausgewiesenen „Kernkapital“ der Banken und dem tatsächlich vorhandenen Eigenkapital vgl.: Stadler Wilfried, Der Markt hat nicht immer recht,  S 71, Abb. 10

[3] Vgl. Stadler Wilfried, Finanzmarktpolitische und regulatorische Ursachen der Finanzmarktkrise, Ecolex März 2009

[4] Wilfried Stadler, Die neue Unternehmensfinanzierung, Frankfurt 2004, S 21

[5] Vgl. Stadler Wilfried, Der Markt hat nicht immer recht, S 80 f.

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