Europäische Union

Perspektiven der europäischen Finanzmärkte

 

Vortrag beim Internationalen Symposium des Universitätszentrums für Friedensforschung „EUROPÄISCHE UNION – QUO VADIS“, erschienen in Heft 167/2016 der „Wiener Blätter zur Friedensforschung“

Permanenter Krisenmodus oder neue Stabilität? 

Wer unangenehme Wahrheiten tabuisiert, überlässt die politische Dynamik jenen, die Realitäten benennen und daraus die falschen Schlüsse ziehen.

Die Themenwahl dieses Symposiums könnte aktueller nicht sein: 2016 ist tatsächlich ein Entscheidungsjahr für Europa. Über lange Jahre hinweg vertraute Antworten auf die Frage nach dem QUO VADIS haben an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Die gewohnte Dramaturgie des europäischen Einigungsprozesses, der seit seinem Start 1957 noch nach jeder Krise zu neuer Dynamik gefunden hat, scheint außer Kraft gesetzt. Von einem „Business as usual“ kann derzeit jedenfalls keine Rede sein.

EWG-Kommissionspräsident Walter Hallstein prägte 1967 im damaligen Europa der Sechs den seit damals unzählige Male zitierten Satz: „Das Europa-Fahrrad muss in Bewegung bleiben, damit es nicht umfällt“. Nun droht es wieder einmal umzufallen – nicht zuletzt, weil es keine Einigkeit über das Fahrziel gibt.

Die Europäische Kommission als zentrales Regierungsinstrument wirkt zusehends machtloser. Die ursprünglich als Ausnahme gedachte, aus der Bedrängnis der Finanzkrise geborene Praxis der Verlagerung von Entscheidungen in improvisierte Rats-Treffen von Regierungschefs und Fachministern ist spätestens seit der Flüchtlingskrise zum Normalzustand geworden. Dies hat das Gewicht nationaler Standpunkte erhöht, zumal in einem Umfeld von Wahlgängen, die zusehends von rechten und linken EU-Gegnern geprägt werden. Schon heute liegt der Anteil jener EU-Abgeordneten, die mit ihrem Mandat die Absicht verfolgen, das europäische Parlament zu schwächen oder gar abzuschaffen bei über zehn Prozent der Delegierten.

Mitunter tendieren wir dazu, das Erreichte zu unterschätzen. Deshalb möchte ich Ihnen eine Folie zeigen, die die immensen geopolitischen Veränderungen der europäischen Vertiefungen und Erweiterungen allein seit 1989 erkennen lässt:

Abb. 1: Erweiterung und Vertiefung des EU- und Euro-Raumes seit 1989

Aber die Tatsache der aktuellen Verunsicherung bleibt und Geschichte lässt sich bekanntlich nicht rückabwickeln. Wir befinden uns eben nicht in der Generalprobe – jede unserer Handlungen im Realexperiment Europa zeigt faktische Wirkungen.

Dennoch sind aus meiner Wahrnehmung vor allem zwei – bereits kurz erwähnte – externe Schocks ursächlich dafür, dass wir vom Entwicklungspfad der „ever closer union“ abgekommen sind und uns stattdessen im Zustand einer merkwürdig perspektivlosen Dauerimprovisation befinden: Zum einen die so genannte Flüchtlingskrise als Folgeerscheinung einer in ein ganzes Labyrinth von Sackgassen geratenen Nahostpolitik. Zuvor aber, und noch viel tiefer in den Grundbestand des europäischen Gefüges einschneidend, die Finanzkrise 2008 mit der von ihr ausgelösten europäischen Staatsschuldenkrise.

Vor allem auf diese finanzökonomische Ursachenkette werde ich in der Folge eingehen, um in einem Schlussteil über jene aktuellen Reformperspektiven sprechen, die uns wieder in so etwas wie eine „neue Normalität“ führen sollten.

Umstrittene Strategien der Europäischen Zentralbank

Dass wir von einer solchen „neuen Normalität“ auch im achten Jahr nach Ausbruch der Finanzkrise noch weit entfernt sind, machten uns zuletzt die aktuellen Entscheidungen der Europäischen Zentralbank bewusst. Zinsniveaus in der Nähe von Null verbilligen zwar die Kreditgewährung, haben aber im aktuellen Umfeld keinen nachweisbar stimulierenden Einfluss auf die so genannte Realwirtschaft. Dennoch sind sie eine gute Nachricht für Schuldner – und zwar nicht nur für Private und Unternehmen sondern auch für Regierungen, denen die niedrigen Kosten der Fremdfinanzierung den Druck nehmen, ihre Staatshaushalte in Ordnung zu bringen. Jede Normalisierung des Zinsniveaus würde die Bedienbarkeit der Staatsschulden jedenfalls massiv erschweren.

Die Entwicklung der Zinsniveaus in Richtung Null-Linie erfolgte im globalen Gleichklang:

Abb. 2: Entwicklung der Leitzinsen

Die viel diskutierte „Enteignung“ der Sparer durch faktisch unverzinste Sparbücher könnte angesichts extrem niedriger Inflationsniveaus weniger kritisch gesehen werden – allerdings ist die psychologische Wirkung dieser so genannten „financial repression“ nicht zu unterschätzen, vor allem wegen der fehlenden Möglichkeit, für Zwecke der Altersvorsorge oder sonstige Ansparziele risikolos zu veranlagen.

Neben der Politik extrem niedriger Zinsen bedient die EZB – zeitversetzt gegenüber den USA – den Instrumentenkasten des so genannten „Quantitative Easing“, also großvolumiger Wertpapierankäufe. Dieses Programm startete am Beginn des vergangenen Jahres und war mit einem Ankaufsvolumen von EUR 60 Mrd. pro Monat ursprünglich bis Ende 2016 terminisiert. Von diesem Ablaufdatum ist mittlerweile keine Rede mehr, im Gegenteil: das monatliche Volumen wurde im März dieses Jahres von 60 auf 80 Mrd. Euro pro Monat erhöht und ab Juni sollen von diesem „Quantitative Easing“ erstmals auch Unternehmensanleihen erfasst werden.

Abb 3: Quantitative Easing

Die Wertpapierankäufe der EZB erhöhen zwar jenen Teil der Geldmenge, der von den Notenbanken direkt beeinflussbar ist, indem dem Bankensystem zusätzliche Liquidität zugeführt wird. Eine unmittelbare Wirkung auf eine Erhöhung des Kreditvolumens, das der sogenannten „Realwirtschaft“ zur Verfügung steht, bleibt allerdings weitgehend aus.

Mittlerweile unbestreitbar ist der Kollateralschaden spekulativ überhöhter Preise in verschiedenen Veranlagungsklassen – von den Aktienmärkten bis zu den preislich vielfach überreizten Immobilienmärkten. Diese so genannte „Asset inflation“ hat äußerst unerwünschte Verteilungswirkungen. Unter anderem macht sie den Erwerb von Eigentum an der eigenen Wohnung für Durchschnittsverdiener zum unerreichbaren Ziel.

Die im Zusammenhang mit den EZB-Wertpapierkäufen befürchtete Aufblähung der Geldmenge wird in ihrer inflationären Wirkung übrigens meist überschätzt: der gestiegenen Notenbanken-Bilanz stehen nämlich in ihrem Gesamtvolumen schrumpfende Bankenbilanzen gegenüber. Dieses „Deleveraging“ im Bankensystem führt gewissermaßen kompensatorisch zu einer Reduktion der Geldmenge. Auch ist die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes deutlich niedriger als in Zeiten der Hochkonjunktur.

Das deklarierte EZB-Ziel, eine Inflationsrate von annähernd zwei Prozent zu erreichen, wird bisher verfehlt. Es erweist sich als realitätsferne Idee, die durchschnittliche Preisentwicklung in den Euro-Staaten ließe sich über einen Leisten scheren und durch geldpolitische Klimmzüge aller Art auf einen exakt abgezirkelten Prozentwert hin trimmen. Wenn Belgien gerade eine Preissteigerung von 1,6 Prozent aufweist und Spanien einen Rückgang von 1 Prozent, Deutschland hingegen eine Mini-Inflation von nur 0,1 Prozent – welche Schlüsse soll man dann aus einer Inflationsrate in der Eurozone von aktuell genau Null ziehen?

Ein ganz anderes, aus nachvollziehbaren Gründen nicht-deklariertes Ziel der EZB war wohl auch, den über lange Zeit gegenüber dem US-Dollar eindeutig zu starken Euro in eine der Kaufkraftparität einigermaßen entsprechende, realistische Wechselkurs-Bandbreite zu bringen. Diese wichtige Übung ist gelungen. Der normalisierte Eurokurs gegenüber dem Dollar und damit dem fast 60% der Weltwirtschaft einschließenden Dollar-Raum trägt entscheidend dazu bei, dass sich Europas Wirtschaft im großen Teil der Euro-Zone auf Erholungskurs befindet.

Wir haben also ein durchwachsenes Bild vor uns. Um es besser interpretieren zu können, lohnt sich ein Blick auf die grundsätzlichen Zusammenhänge.

Die Grundkonstruktion des Euro

Die Schaffung einer gemeinsamen Europäischen Währung gehörte von Beginn an zur Konzeption einer vollständigen Binnenmarkt-Architektur. Die vier Freiheiten des künftigen Binnenmarktes (Personen-Freizügigkeit, Freier Warenverkehr, Dienstleistungsfreiheit sowie freier Kapital – und Zahlungsverkehr) sollte durch eine Gemeinschaftswährung ergänzt werden. Die konkrete Konzeption erfolgte dann nicht zufällig im Umfeld der Ostöffnung und der deutschen Wiedervereinigung. Im Vertrag von Maastricht (1992) fiel die Grundsatzentscheidung, keine Fiskalunion, sondern zunächst lediglich eine Geldunion zu schaffen. Die fiskalische Souveränität der beitretenden Mitgliedsstaaten sollte also erhalten bleiben. Um die Funktionstüchtigkeit einer Währungsunion ohne zentrale Budgetzuständigkeiten abzusichern, schuf man mit den „Maastricht-Kriterien“ gemeinsame budgetäre Spielregeln.

Abb. 4: Euro-Gebiet / Maastricht-Kriterien

Die Schaffung einer vollständigen politischen Union blieb als Fernziel unbestritten. Zunächst aber sollte das Prinzip der fiskalischen Selbstverantwortung gelebt werden, demgemäß ein „Bailout“ von in Budgetschwierigkeiten geratenen Euroländern durch andere Eurostaaten ausgeschlossen wird. Langfristig jedoch ging man von einer faktischen Konvergenz aller Euro-Staaten aus, die eines Tages – der Vision einer „ever closer union“ folgend – in einer Fiskalunion münden würde. Die damals von durchaus namhaften Ökonomen geäußerten Bedenken hinsichtlich eines nicht-optimalen Währungsraumes ließen sich mit diesem Konstrukt entkräften. Das währungspolitisch einzigartige Großexperiment einer Gemeinschaftswährung ohne gemeinsame Budgethoheit wurde auf Grund der verbindlichen Verschuldungsregeln und des unbestrittenen Langfristziels einer Fiskalunion als machbar und seine Risiken als beherrschbar angesehen.

Und tatsächlich funktionierte die Gemeinschaftswährung innerhalb des Maastricht-Konzepts ein knappes Jahrzehnt lang im Wesentlichen klaglos – trotz einiger – aus heutiger Sicht in ihrer Größenordnung vernachlässigbarer – „Sündenfälle“ zu Anfang der Neunzigerjahre. Die sichtbare Konvergenz entlang der Mastricht-Kriterien führte zu einer Annäherung der Verschuldungskosten aller Euro-Staaten – ein klarer Hinweis darauf, dass die Gläubiger der Eurostaaten („die Finanzmärkte“) an die faktische Konvergenz glaubten.

Abb. 5: Entwicklung der Staatsverschuldung im Euro-Raum

Die Rating-Agenturen schlossen sich dieser Einschätzung im Übrigen an. Diese an der Oberfläche positive Entwicklung verdeckte jedoch die sehr unterschiedliche Art, in der die Euro-Staaten mit der neuartigen Situation umgingen. Sie verfügten nun ja über keine eigenen geld- und währungspolitischen Instrumente mehr, der Fluchtweg in die Abwertung der Landeswährung zur Verbesserung der internationalen Konkurrenzfähigkeit war mit einem Mal versperrt.

Abb. 6: Abwertungen im Vor-Euro-Zeitraum

Der Zusammenhang von Finanzkrise und Staatsschuldenkrise

Die Finanzkrise 2008 zerstörte das harmonische Bild. Die Folgekosten von Bankenrettungen, Wachstumseinbruch und Konjunkturpaketen führten in sämtlichen Euro-Staaten zu massiven, im Durchschnitt mehr als 40%-igen Steigerungen der Verschuldungsquoten.

Als an der Jahreswende 2009/10 darüber hinaus das Griechenland-Thema virulent wurde, war mit einem Mal offen, ob nicht auch ein der Eurozone angehörender Staat bankrott werden kann. Die monatelange Ungewissheit über diese existentielle Fragestellung erwies sich als äußerst kostspielig. Es kam zu abrupten Erhöhungen der Verschuldungskosten der mit einem Mal so genannten „Peripherie-Länder“ – ein innerhalb einer Währungsunion jedenfalls untragbarer Zustand.

In einer teuren, sich über mehrere Quartale ziehenden Notoperation mussten die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, das Auseinanderbrechen der Euro-Zone zu verhindern. Dies geschah einerseits über zunächst improvisierte und dann als Dauerlösung eingerichtete Rettungspakete (EFSF und ESM), andererseits inhaltlich höchst problematische Nachbesserungen des „Stabilitäts- und Wachstumspaktes“ im Zusammenwirken mit dem Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank. Die EZB wurde zum Vertrauensanker für den Zusammenhalt der Eurozone. Besonders deutlich wurde das bei der positiven Reaktion der Finanzmarkt-Akteure auf die berühmte „Whatever it takes“-Aussage von Präsident Mario Draghi im Sommer 2012. Wäre diese Antwort schon 2010 verfügbar gewesen, hätte sich Europa wohl einen beachtlichen Teil der Krisenkosten erspart. (Aber: im Nachhinein ist man immer klüger oder, um Peter Handke zu zitieren: „Wenn die Experten den Mund aufmachen, ist es jedes Mal längst zu spät“).

Abb.7: Entwicklung der Zinsen von Staatsanleihen im Euro-Raum

Es war eine Operation am offenen Herzen und der Patient hat sie überlebt. Immerhin sind von den fünf Euro-Staaten, die sich dem Programm der Rettungsschirme unterworfen haben, mittlerweile vier (nämlich Irland, Spanien, Portugal und Zypern) wieder in der Lage, ihre Anschlussfinanzierungen von den Kapitalmärkten selbst zu organisieren. Allerdings ist diese Rückkehr an die Märkte neben erfolgreichen budgetären Anstrengungen der betroffenen Länder wohl auch dem erwähnten Anleihen-Kaufprogramm der EZB zu danken. Wer behaupten würde, der großvolumige Ankauf von Staatsanleihen ließe sich als Einführung von Eurobonds durch die Hintertür interpretieren, der hätte damit wohl nicht ganz unrecht.

Ein wenig beachtetes Sonderproblem des Euroraums stellt die überproportionale Bedeutung des Bankensystems mit seinen hohen Ausleihungen an die öffentlichen Haushalte dar. Die europäische, bankenorientierte Finanzierungstradition unterscheidet sich gerade in dieser Hinsicht fundamental von der kapitalmarktorientierten Finanzierungstradition der USA und Englands.

Während der Jahre der fortschreitenden Konvergenz waren die gegenseitigen Ausleihungen zwischen Banken und Staaten von Euroland massiv angestiegen. Als die Finanzkrise hereinbrach, bestand auf Grund dieser engen Verschränkung die Gefahr einer gegenseitigen Ansteckung. Aus jeder versäumten Bankenrettung konnte eine Staatskrise werden – und umgekehrt aus jeder Staatskrise ein paneuropäisches Bankenproblem. Schon deshalb mussten die Mitgliedsstaaten ihre Großbanken durch Sanierungspakete vor dem Absturz bewahren.

Abb. 8: Die überproportionale Bedeutung des europäischen Bankensystems

Eben darin liegt die entscheidende Bedeutung der Bankenunion. Ihre erste Säule ist bekanntlich die gemeinsame, gesamteuropäische Bankenaufsicht. Ihre zweite Säule: ein Sanierungsmechanismus für Großbanken, der gewährleistet, dass neben den Aktionären auch die Bankengläubiger zur Sanierung herangezogen werden Damit soll wenigsten mittelfristig die fatale Automatik des „Too big to fail“ durchbrochen werden, die bis dahin zur Überwälzung der Kosten von Bankensanierungen an den Staat und damit an die Steuerzahler geführt hat.

Abb. 9: Die Bankenunion

Trotz der Schaffung dieses Sanierungsmechanismus sind wir allerdings noch nicht aus der Gefahrenzone. Die Großbanken weisen nach wie vor viel zu geringe Kapitalpolster aus, die von den Banken aufzufüllenden Rettungsfonds sind noch nicht verfügbar.

Darüber hinaus geht die Bankenregulierung trotz einiger substantieller Fortschritt insgesamt in eine problematische Richtung der Überkomplexität und Fehlsteuerung. Das Gestrüpp an Vorschriften, die paradoxerweise vor allem jene Bereiche des Bankenhandels genauestens regeln, die am allerwenigsten krisenursächlich waren, ist mittlerweile sogar zu einem Konjunkturhemmnis ersten Ranges geworden – aber das ist ein anderes Thema, auf das ich aus Zeitgründen nicht näher eingehe.

Das Problem der innereuropäischen Verflechtung überproportional großer Bankensysteme dadurch zu entschärfen, dass den Banken hohe Bestände an Staatsanleihen abgekauft werden, scheint zu den nicht-deklarierten Nebenzielen der EZB-Anleihenkäufe zu gehören. In besonderem Umfang gilt das – unter Einrechnung der vom ESM gehaltenen Anleihen – für die griechischen Anleihenbestände. Wenn zuletzt trotz neuerlicher Zuspitzung der Griechenland-Krise keine merklichen Ansteckungseffekte in anderen Euro-Staaten feststellbar waren, dann lag es an den erwünschten Wirkungen eben dieser Vorgangsweise. Das System ist also dank EZB und der zunächst improvisierten Schutzschirmpolitik insgesamt doch deutlich resilienter geworden, als es das zum Zeitpunkt des ersten Schocks nach der Finanzkrise war. In diesem Sinn hat es sich ausgezahlt, Zeit zu kaufen.

Die langfristige institutionelle Absicherung des Euro

Die aktuelle Diskussion um Europas Verfasstheit, die Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien, die nationalistischen Rückzüge im Gefolge der Flüchtlingskrise: all das deutet darauf hin, dass die „ever closer union“ dabei ist, zu einem unerreichbaren Fernziel zu werden. Wenn aber die Einigkeit über das jahrzehntelang als Leitbild dienende Zielfoto der Union und damit auch ihrer Gemeinschaftswährung verloren geht, wie lässt sich dann im Rahmen einer Neukonzeption der europäischen Finanz-Architektur sicherstellen, dass der Zusammenhalt des Währungsgebietes gewährleistet werden kann?

Die Frage ist höchst brisant vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Währungsunion immer auf Dauer angelegt war und es keinerlei praktikable Vorstellung davon gibt, wie das Ausscheren eines Landes funktionieren sollte, ohne dass es zu massiven, in ihren Reaktionsketten unberechenbaren Rückwirkungen auf das Gesamtsystem kommt.

Die nüchterne Wahrheit ist: Wenn es keine Fiskalunion gibt – die im Übrigen mit einer Verfassungsreform und Volksabstimmungen in allen Mitgliedsländern einhergehen müsste – wird es auf Dauer bei der Geldunion bleiben. Für deren unabdingbare Einbettung in einen als stabil wahrgenommenen fiskalischen Rahmen haben die ursprünglichen Maastricht-Kriterien offensichtlich nicht gereicht. Die verstrengerten Versionen davon, festgezurrt im Wachstums- und Stabilitätspakt und immer wieder Gegenstand machtpolitischen Gerangels, erweisen sich in ihrer Rigidität jedoch als massives Konjunkturhemmnis. Zugleich steht aber fest: ohne glaubhaftes Regelwerk wird es nicht gehen.

Abb. 10: Der Weg zur Fiskalunion

Welches institutionelle Arrangement könnte also am ehesten geeignet sein, die Zukunft der Gemeinschaftswährung auch dann zu sichern, wenn die Schaffung einer echten Fiskalunion noch für eine sehr lange, vorhersehbare Zeit Utopie bleiben wird? Aus meiner Sicht zeichnet sich eine institutionelle Konstellation ab, die ich als „virtuelle Fiskalunion“ bezeichnen möchte. Aufrechterhaltung der fiskalischen Souveränität bei gleichzeitiger Verstetigung eines Interventionsinstruments in Form des ESM, der das Vormodell eines künftigen Europäischen Währungsfonds darstellt.

Abb. 11: Das institutionelle Arrangement einer virtuellen Fiskalunion

Im engstem Zusammenhang damit wird an der Lösung einer Frage gearbeitet, die einer Quadratur des Kreises gleichzukommen scheint: die Entwicklung einer Insolvenzordnung für Gebietskörperschaften innerhalb der Eurozone – von der kommunalen über die Bundesländerebene bis zur Ebene des Nationalstaates. Parallel dazu steht der Wachstums- und Stabilitätspakt vor einer grundlegenden Neukonzeption.

Ein ordnungspolitischer Neubeginn

Wir wissen nicht, ob es die politischen Gegebenheiten in den vom rigiden Austeritätserfordernis der überholten Maastricht-Kriterien am meisten betroffenen Staaten zulassen werden, dass es zu den notwendigen Reformen kommt. Noch weniger wissen wir darüber, ob der Reformdruck ausreicht, um parallel dazu auch das Finanzsystem so zu reformieren, dass es wieder zu einem Dienstleister der Realwirtschaft wird, statt die einseitige Finanzialisierung und damit verbundene Verschärfung der Ungleichheit weiter zu verstärken.

Wir stehen vor einer ordnungspolitischen Herausforderung, die über die Neuordnung der Rahmenbedingungen des Finanz- und Bankensystems weit hinausreicht. Das europäische Wirtschaftsmodell einer sozial und ökologisch verantworteten Marktwirtschaft bedarf unter den Bedingungen der Globalisierung einer grundlegenden Erneuerung, wenn die Wertegemeinschaft nicht zu einer inhaltsleeren Besitzgemeinschaft (© Peter Rosei) verkümmern soll.

Die Frage des QUO VADIS kann jedoch nur beantwortet werden, wenn wir zuvor mit derselben Ernsthaftigkeit auch nach dem CUI BONO fragen: Wem dient die europäische Sache, vom alles entscheidenden Friedenszweck einmal abgesehen? Wie können wir sie so organisieren, dass sie auch mit Blick auf Wertschöpfung, soziale Sicherheit und ökologische Qualität wieder als ein Projekt wahrgenommen wird, das der gemeinsamen Anstrengung wert ist?

Eine kritische Zwischenbilanz über das bisher Erreichte und Versäumte, die konsequente Überarbeitung der Aufgabenteilung zwischen Brüssel und den Mitgliedsstaaten und die verbindliche Festlegung realistischer Etappenziele: eine solche Agenda könnte die europäische Erzählung wieder attraktiv machen. Gelingt dann auch noch ein wirtschaftspolitischer Reformschub, wäre die Fluchtbewegung in das trügerische Paradies nationaler Geborgenheit wohl bald wieder Vergangenheit. Möge die Übung gelingen!

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