die furche - 74

Stoff erfüllten Lebens

 

Eine zufällige Nachbarschaft auf Zeit ließ mich vor einigen Tagen in einem Zugabteil zwei junge Leute – wohl Mitte Zwanzig – kennenlernen. Während meiner Reise von Salzburg nach Wien war mir aufgefallen, wie sie sich lebhaft in einer mir fremden Sprache unterhielten und vertraut miteinander umgingen, wenn sie gerade schwiegen. Anrufe, die sie von Freunden und Verwandten auf ihren Mobiltelefonen erreichten, beantworteten sie in der Mehrzahl auf Deutsch, genauer: auf Kärntner-Deutsch. Die Beiden wirkten ausgeglichen, unbeschwert und zugleich irgendwie ernsthaft.

 

Ein halbe Stunde vor Wien mischte ich mich in das Gespräch meiner sympathischen Mitreisenden und wollte wissen, ob die wohlklingende Fremdsprache, in der sie sich unterhielten, Slowenisch sei und ob sie aus dem zweisprachigen Teil Kärntens stammten. Natürlich folgte ein Gespräch über Ortstafeln und über die Frage, wie zufrieden sie mit der nun gefundenen Lösung seien. Mehr wäre realistischer Weise nicht erreichbar gewesen, meinten sie, aber eigentlich sei es traurig, dass ein verfassungsgemäß zustehendes Recht einem Kompromiss weichen musste. Es entwickelte sich ein angeregtes Gespräch, unter anderem über die Vorteile von Zweisprachigkeit.

 

Als ich meine so aufgeweckten, gebildeten Zufallsbekannten schließlich neugierig nach ihrer Studienrichtung befragte, kam die Überraschung: die junge Frau erzählte, sie sei Krankenschwester und ihr Begleiter sagte in einem nach Eingeständnis klingenden Tonfall, er sei „nur Elektriker“. Ich überspielte meine Beschämtheit über mein implizites Vorurteil, nur Studierende könnten so gebildet und weltoffen wirken wie diese Beiden. Am Ende der Reise verabschiedeten wir uns mit guten Wünschen.

 

Wieder einmal wurde mir bewusst, wie einseitig unsere von Pisa-Tests und Bologna-Prozessen getriebene Bildungspolitik ihre Erfolge an der Steigerung von Akademikerquoten misst, statt sich um wirkliche Bildung zu sorgen. Für junge Menschen, die nicht direkt auf eine kopflastige akademische Karriere zusteuern, sondern frühes Interesse an einem angewandten Beruf zeigen, brauchen wir tragfähige Brücken zwischen angewandtem Können, selbstbewusster Eigenständigkeit und Intellekt. Wir müssen solche Entscheidungen unterstützen, statt sie in Ausbildungs-Sackgassen für Nicht-Maturanten leerlaufen zu lassen.

 

Dazu gehören mehr post-sekundäre, berufsnahe Ausbildungen, statt an Massenuniversitäten Studienabbrecher zu frustrieren. Und schließlich andere Begriffe als „Lehrlinge“ und „Facharbeiter“ für die Vielfalt der Berufe, die wir alle so schätzen, wenn wir sie dringend benötigen – ob Krankenschwestern oder Elektriker – denen wir aber in der verfestigten Arroganz von Titelträgern sozial nur Außenseiterchancen geben.

 

Eine Bildungsdiskussion, die endlich bei einem ganzheitlichen Menschenbild ansetzt und sich nicht im Streit um Schulformen erschöpft, ist überfällig. Denn erst in Verbindung mit Menschenbildung und musischer Förderung wird Prüfungs-Stoff zum Stoff erfüllten Lebens.

06/10/2011

download