die furche - 30

Luzifer und die Finanzmarktkrise

 

Den „veloziferischen Charakter“ einer sich immer mehr beschleunigenden Zeit hat einst schon Johann Wolfgang von Goethe beklagt. Seine schöpferische Wortverbindung der Geschwindigkeit (velocitas) mit dem Teufel (Luzifer) entstand am Beginn der Moderne, als die Industriegesellschaft noch in ihren Anfängen stand. Gut zweihundert Jahre danach hat das Tempo wohl noch um ein Vielfaches zugenommen.

 

Die gefühlte Beschleunigung verdankt sich neben rasanter technischer Innovation vor allem der Globalisierung. In ihrer dreifachen Dimension der Grenzenlosigkeit, Gleichzeitigkeit und Geschwindigkeit vereint sie räumlich und zeitlich die Spielflächen menschlicher Aktivität auf einem einzigen globalen Austragungsfeld des Wettbewerbs um Ressourcen, Wertschöpfung und Verteilung des Wohlstands.

 

Bis vor gar nicht so langer Zeit haben wir die Beschleunigung als Begleiterscheinung des Projekts der Moderne gerne in Kauf genommen, weil sie von stetig zunehmender Selbstbestimmung begleitet war. Mit der Mündigkeit wuchs die Kapazität zur Informationsaufnahme, mit den neuen Möglichkeiten wuchsen die neuen Freiheiten.[1]

 

Irgendwann genügte uns das nicht mehr. Weil wir alles Erdenkliche in unserem Leben unterbringen wollten, brauchten wir einen zusätzlichen Treibsatz für immer neues Wachstum. In einer Gesellschaft freier Menschen bot sich der freie Markt als ideale Beschleunigungsmaschine der Moderne an. Mit ihm konnte man schwerfällige politische Bindungen ebenso zurücklassen wie den Ballast traditioneller Wertebindungen.

 

Der Markt erfüllte weitgehend die in ihn gesetzten Erwartungen in der Welt der Waren und Dienstleistungen. Wohlstand durch Freiheit wurde zum erfüllten Versprechen für Viele, der in der amerikanischen Verfassung verankerte Zweck des Gesellschaftsvertrages („pursuit of happiness“) erfüllte sich mit Leben.

 

Gerade als wir dabei waren, dieses Versprechen auch auf bisher benachteiligte Weltregionen auszudehnen, stellte sich heraus, dass die Beschleunigungsmaschine einen fatalen Konstruktionsfehler aufwies: fatalerweise wurde nämlich die totale Marktfreiheit nicht nur der Realwirtschaft sondern auch der Finanzwirtschaft zugestanden. Dort aber erwies sie sich als zerstörerisch und destabilisierend, ja als Gefahr für den in der Realwirtschaft geschaffenen Wohlstand, auf dem letztlich der gesellschaftliche Zusammenhalt ruht.

 

Werden wir es schaffen, die erwünschte Wertschöpfungs-Dynamik zu erhalten, gleichzeitig aber die entgleiste Finanzwirtschaft wieder zu disziplinieren und zu einem Dienstleister der Realwirtschaft zu machen? Die Komplexität dieser Aufgabe gleicht den verzweifelten Anstrengungen des Goethe´schen Zauberlehrlings, seine Besen zu bändigen.

 

Es geht letztlich um nichts Geringeres als die Neubestimmung der Grenzen unserer materiellen Entfaltungsfreiheit. Erst wenn diese Neubestimmung gelingt, werden wir die überhitzte, uns überfordernde Moderne wieder gegen einen besonneneren, selbstbestimmten Entwicklungspfad unserer Gesellschaft eintauschen können.


[1] Hartmut Rosa, „Beschleunigung, Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne“, Verlag Suhrkamp)

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