Familienunternehmen

Unabhängigkeit in turbulenten Zeiten

 

Buchbeitrag in: Charlotte Natmessnig / Veit Schmid-Schmiedsfelden (Hrsg.), Familienunternehmen – Ökonomie, Geschichte, Werte; (Wien, 2016)

Finanzierungsstrategien von Familienunternehmen nach der Krise

Die gesamte „Realwirtschaft“ und damit auch alle Familienunternehmen wurden durch die im Herbst 2008 erstmals ausgebrochene Finanzkrise außergewöhnlichen Belastungen aus-gesetzt. Das schockartig aufgetretene Ereignis hinterließ tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis der Unternehmerschaft und lieferte den Anlass zum Überdenken bisheriger Finanzierungsstrategien. Der Erhalt der Unabhängigkeit gegenüber Banken und Kapitalmärkten wurde zur obersten Priorität.

In jüngster Zeit liefern nicht nur die in ihren langfristigen Auswirkungen schwer einschätz-baren Sondermaßnahmen der Notenbanken, sondern auch die lang anhaltende Phase extrem niedriger Zinsen mit den dadurch ausgelösten spekulativen Übertreibungen auf den Kapitalmärkten neue, nur allzu gute Gründe, jede Abhängigkeit von einer nach wie vor fehlregulierten Finanzwirtschaft zu vermeiden.

Zudem wirkt sich die als Reaktion auf die Finanzkrise verschärfte Bankenregulierung („Basel III“) nachteilig auf die Versorgung der Unternehmen mit Bankkrediten aus. Während nämlich das einzelwirtschaftliche Kreditrisiko immer komplexeren Kontrollen unterworfen wird und Banken meist schon mehr Mitarbeiter in der Risikokontrolle als in der Kundenbetreuung beschäftigen, wird das für den Ausbruch der Finanzkrise verantwortliche systemische Risiko einer zu geringen Eigenmittelausstattung des Bankensystems nach wie vor vernachlässigt.

Auch wenn Fragen der Finanzierung von Familienunternehmen vor dem Hintergrund der Finanzkrise und daraus abgeleitete ordnungspolitische Konsequenzen das thematische Zentrum dieses Beitrags bilden, steht an seinem Beginn ein Blick auf Spezifika von Familien-unternehmen, die deren Reaktion auf die Finanzkrise besser erklärbar machen.

Im zweiten Abschnitt folgt eine stark gestraffte Darstellung der wesentlichen Ursachen der Finanzmarktkrise, zu deren Entstehen das ungesteuerte Aufeinandertreffen der angloameri-kanischen, kapitalmarktorientierten Finanzierungskultur mit der traditionell bankorientierten, am Vorsichtsprinzip ausgerichteten kontinentaleuropäischen Finanzierungskultur maß-geblich beigetragen hat.

Schließlich wird die Vorteilhaftigkeit einer Bankwirtschaft begründet, die ihre Funktion wie-der in erster Linie als Dienstleister der Realwirtschaft sieht. Um ihr zum Durchbruch zu verhelfen, bedarf es einer im Schlusskapitel dieses Beitrags näher begründeten ordnungspolitischen Neuausrichtung.

Von den familienunternehmerischen Tugenden

Unternehmen arbeiten im Prozess der Wertschöpfung ständig am optimierten Einsatz von Ressourcen, an der Festigung der Marktposition und dem Aufbau neuer Geschäftsfelder. Der laufende Wandel von Markterfordernissen und Technologien führt sie zu immer neuen Positionierungen, die Produktlebenszyklen werden kürzer. Joseph Schumpeter hat diesen für Wettbewerbssysteme typischen Vorgang als „schöpferische Zerstörung“ bezeichnet.

Der permanente wirtschaftliche und soziale Wandel ist in besonderer Weise in die Geschichten von Familienunternehmen eingeschrieben. Einerseits werden sie von den Zeit-strängen der technologischen Basis-Innovationen geprägt – von der Dampfmaschine über die Elektrizität bis zur Mikroelektronik, von den modernen Kommunikationstechnologien über die Nanotechnologie bis zu Durchbrüchen in der Materialforschung. Andererseits sind sie geformt von den politischen Umbrüchen – von den Frühzeiten der industriellen Globalisierung über die Kapitalmarktkrise der 1930er Jahre zur nachfolgenden nationalstaatlichen Abschottung, von der Wiederaufbauwirtschaft nach dem Krieg über die weltweite Handelsliberalisierung zu Ostöffnung, EU-Erweiterung und den neuen Kräfteparallelogrammen einer multipolaren Wirtschaftswelt.

Was gab es nicht schon an „Megatrends“, denen sich Familienunternehmen zu stellen hatten: Die amerikanische Herausforderung der frühen 1970er, die japanische Herausforde-rung mit dem zu Anfang der 1980er Jahre fast unbesiegbaren Industrieplanungsministerium „MITI“, die Revolution der Fertigungsmethoden in der Autoindustrie, die elektronische Re-volution, die IT-Revolution, die Globalisierung. Völlig neue Wertschöpfungsketten entstanden, und gerade die außergewöhnlich erfolgreichen Unternehmen haben sich so stark verändert, dass sie kaum mehr wiederzuerkennen sind. Und dennoch besitzen die meisten von ihnen – nicht nur über die damit verbundenen Eigentümerfamilien – so etwas wie ei-nen „genetischen Code“, der sie unverwechselbar macht in der Art, wie sie mit dem Wandel umgehen, wie sie strategisch denken und handeln.

Diese Fähigkeit, mit dem Wandel umzugehen, ist heute ganz offensichtlich mehr gefordert denn je, nehmen doch Intensität und Tempo der Veränderung in Märkten und Technologien exponentiell zu. Immer schwieriger wird es, im Wirbelsturm unübersichtlicher Verschiebungen der unternehmerischen Einflussgrößen jene Konstanten zu erkennen, auf die zu setzen sich lohnt.

In solchen Situationen sind familienunternehmerische Tugenden mehr denn je gefragt: Risikobereitschaft aus eigener Verantwortung, Orientierung am langfristigen Bestandsinte-resse des Unternehmens, menschliche Bodenhaftung, Nähe nicht nur zu langjährigen Kunden, sondern auch zu Mitarbeitern und dem sozialen Umfeld.

Man muss nicht Schwarz-Weiß-Malerei betreiben, um diese Eigenschaften in einem ganz unbestreitbaren Kontrast zu den Profilen großer börsennotierter Kapitalgesellschaften zu sehen, denen ein (familienunternehmerischer) Kerneigentümer fehlt. „Societés Anonymes“ heißen bezeichnenderweise im Französischen diese unbehausten Großunternehmen im in-stitutionellen Niemandsland. Unter dem Druck der Gesetzmäßigkeiten von Kapitalmärkten neigen solche Unternehmen oft zu einseitiger Ausrichtung an Aktionärsinteressen, vielfach kommt es dabei zu abgehobenen, an Selbstbedienung erinnernden Gehaltsstrukturen von Firmenlenkern, die die überhöhten Kosten ihrer Selbstüberschätzung mit Aktionärsinteressen rechtfertigen.

Die Grenzen lassen sich keinesfalls scharf ziehen, gibt es doch Beispiele für gut geführte Unternehmen in allen Größen und Eigentümerstrukturen. Vieles deutet aber doch auf eine Häufung bestimmter, für die nachhaltige Entwicklung von Unternehmen vorteilhafter Verhaltensmuster bei Familienunternehmen. Schon aus diesem Grund ist es für eine von der jeweils vorherrschenden Unternehmenskultur geprägte Gesellschaft von großer Bedeutung, ob in einem Wirtschaftssystem Familienunternehmen ein ausreichender Stellenwert zu-kommt oder aber Kapitalgesellschaften dominieren, die überwiegend von kurzfristigen, an den Bewertungen durch Kapitalmärkte bestimmten Renditeerwartungen und darauf abgestellten Management-Motivationssystemen gesteuert werden.

Eine an der deutschen Privatuniversität Witten/Herdecke entstandene Studie zeigt, dass die Anteilseigner von Unternehmen dort am besten gestellt sind, wo nicht das kurzfristige Be-dienen des Eigentümerinteresses – also Kurssteigerung und Dividendenmaximierung – im Mittelpunkt der manageriellen Anstrengungen steht und langfristige Investitionen – auch in unternehmerisches Sozialkapital – strukturell benachteiligt werden. Im Gegensatz dazu trachten Familienunternehmen danach, sich Krisenpuffer aufzubauen und auf akute Ergebnisschwankungen mit Zurückhaltung bei der Entnahme zu reagieren. Meist schaffen sie sich sogar ein Regelwerk, das geordnete Entnahmen und Investitionsentscheidungen entlang des Unternehmenserfolgs sicherstellt.1

Natürlich kann, was über lange Zeit fördernd wirkt, in Sondersituationen auch zum Problem werden. Die Tatsache, dass das System Familie mit dem System Unternehmen in ein-zigartiger Weise so korreliert, dass daraus entweder noch größere Chancen erwachsen oder sich die Gefahren gegenüber „normalen“ Kapitalgesellschaften sogar potenzieren können, ist mittlerweile durchaus bewusst.

„Das Familienleben ist ein Eingriff ins Privatleben“. Dieser von Karl Kraus geprägte Aphorismus könnte auch für die Einflusssphären von Familien in Unternehmen Geltung haben. Denn Familienleben ist immer dann ein Eingriff ins Unternehmensleben, wenn innerfamiliäre und unternehmerische (Ziel-)Konfliktzonen nicht durch eine kluge Unternehmensverfassung miteinander produktiv verbunden werden, sondern ungelöst aufeinander prallen. Nicht selten können die Lebenswerke der ersten oder zweiten Generation in Gefahr geraten, wenn die Balance der beiden Kraftfelder verloren geht. Wer kennt nicht jene zahlreichen Unternehmen, in denen ein patriarchalischer und/oder matriarchalischer Führungsstil längst überfällige Anpassungen verzögerte, in denen zerstrittene Familienstämme das Er-wirtschaftete durch überhöhte Privatentnahmen gefährdeten, oder die nächste Generation nach jahrzehntelangem, vergeblichen Warten auf die Verantwortung resignierte? Für sie gilt in Abwandlung des Originalzitats: „Das Familienleben ist ein Eingriff ins Unterneh-mensleben“.

Die Reaktionsstärke von Familienunternehmen in der Krise

Aber das Ineinander von Familie und Unternehmen kann auch zur besonderen Stärke wer-den: Identifikation mit den Werten des Unternehmens, Flexibilität, kurze Entscheidungswege, Interesse am langfristigen Werterhalt, hohes persönliches Engagement: all diese Eigen-schaften werden gerade in der Krise zur besonderen Stärke dieses Unternehmenstypus.3

Noch liegen keine statistisch trennscharfen Untersuchungen darüber vor, wie stark der Einfluss der gerade in Österreich und Deutschland ausgeprägt familienunternehmerischen Eig-entümerstrukturen auf den Umstand war, dass sich Wirtschaftswachstum und Arbeitsmärkte beider Länder nach den durch die Finanzkrise hervorgerufenen Einbrüchen zwischen Herbst 2008 und Frühsommer 2009 vergleichsweise rasch wieder erholten. Die Erholung trat jedenfalls gerade in Ländern mit hoher industrieller und gewerblicher Wertschöpfungsquote ein, die typischerweise durch überwiegend familiäre Eigentümerstrukturen geprägt sind. Jene Staaten hingegen, die über lange Zeit stärker auf einen wachsenden Finanzsektor setzten und die Entwicklung der Produktionsressourcen vernachlässigten, blieben im Hintertreffen.

Der im Gefolge der Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers einsetzende Vertrauens- und Liquiditätsverfall führte zu Auftragseinbrüchen, die für viele Unternehmen zur Exi-stenzbedrohung wurden. Die völlig überraschend aufgetretene Krisensituation wurde zur Bewährungsprobe für Eigentümer, Management und Mitarbeiter. Es gibt starke Hinweise darauf, dass gerade Familienunternehmen mit ihren Arbeitskräften in der ersten Phase der Finanzkrise auf kooperative Strategien setzten und auf den Auftragseinbruch mit Kurzarbeitslösungen anstelle von Entlassungen reagierten. Auch wenn Kündigungen in zahlreichen Fällen zunächst nicht vermeidbar waren: Die Mehrzahl der Unternehmen schaffte mit einer Mischung von Produktivitätssteigerungsmaßnahmen, Zurückstellen von Investitionsplänen und Aufrechterhalten ihrer Kundennähe die Überbrückung der Zeit bis zur konjunkturellen Erholung. Häufig fielen sehr bewusste Entscheidungen der Zurückhaltung bei Ausschüttungen und des Inkaufnehmens einer vorübergehend schlechteren Ertragslage, um den inneren, wertschöpferischen Zusammenhalt des Unternehmens nicht zu gefährden und im Aufschwung wieder lieferfähig zu sein. Dazu gehörte meist auch das Bekenntnis zur Aufrechterhaltung eines hohen Einsatzes für Forschung und Entwicklung trotz knapper Liquidität. Nicht selten gelang das Kunststück, in der wieder einsetzenden konjunkturellen Erholung der zweiten Jahreshälfte 2009 mit gestrafften Kostenstrukturen, besser fokussierten Pro-dukt-/Marktstrategien und gestärkter Profitabilität an frühere Erfolge anzuknüpfen.

Dennoch kehrten die meisten Unternehmen nicht einfach zum „Business as usual“ zurück. Die jederzeitige Möglichkeit weiterer systemischer Schockwellen auf den Finanzmärkten verlangt nach größeren Sicherheitsreserven sowohl in der Liquiditätshaltung als auch in der Höhe der erforderlichen Eigenkapital-Puffer.

Vor diesem Hintergrund ist die trotz niedriger Zinsen gegebene Investitionszurückhaltung erklärbar, aber auch die klar erkennbare Präferenz für realwirtschaftliche Investitionen gegen-über Finanzveranlagungen. Insgesamt werden die Möglichkeiten des Bankensystems ebenso wie jene der Kapitalmärkte deutlich selektiver und kritischer genutzt als vor der Krise.

Banken-Geldschöpfung und Realwirtschaft: Wie es zur Finanzkrise kam

Die Short Story der Krise lässt sich in wenigen Absätzen resümieren: Internationale Groß-banken und von ihnen beeinflusste Schattenbanken steigerten in den Jahren vor Ausbruch der Krise in einem Umfeld ungezügelter Liberalisierung über extrem hohe Fremdmittel-Hebel bei ebenso knapper Eigenmittelausstattung ihre Bilanzsummen und schufen damit unglaubliche Mengen an geldwerten Ansprüchen. Die Kreditgeldschöpfung stieg in einem gegenüber dem Wachstum der Realwirtschaft weit überproportionalen Ausmaß. Der Geldschöpfung durch das Finanzsystem lagen anstelle realer Wertschöpfung überwiegend spekulative Erwartungswerte zugrunde, deren Einlösbarkeit erstmals in Frage stand, als ab dem Sommer 2007 ein Preisverfall auf dem amerikanischen Immobilienmarkt einsetzte („Subprime-Krise“).

Fehlerhafte Regulative und trügerische Rating-Signale hatten schon im Vorfeld zur beinahe gänzlichen Aushöhlung der Eigenkapitalbasis der Banken geführt. Kurz vor dem Beinahe-Absturz der globalen Finanzwirtschaft im September 2008 lag der durchschnittliche Fremdmittel-Hebel (Leverage) großer internationaler Banken bei 35, was im Umkehrschluss einer „echten“ Eigenmittelquote von unter drei Prozent entspricht.4 Prozyklisch wirkende Bilanzierungsregeln einerseits und fehlkonstruierte „Basel II“-Vorschriften andererseits bewirkten, dass die meisten Großbanken ohne jeden Risikopuffer in die Krise fuhren. Uferlose Kreditgeldschöpfung ohne Deckung durch reale Wertschöpfung ließ das System schließlich entgleisen.

Als besonders ausfallgefährdet erwiesen sich dabei Verbriefungen und sogenannte synthetische Wertpapiere. Diese von den Rating-Agenturen systematisch falsch eingeschätzten „Finanzinnovationen“, in denen Einzelkredite zu Anleihen gebündelt wurden, bilden bis heute einen wesentlichen Anteil an den sogenannten „toxischen“ Beständen des Finanzsystems.

Die Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 führte zu einem abrupten Vertrauensverlust zwischen den globalen Großbanken und einem Beinahe-Kollaps des Finanzsystems, verbunden mit dramatischen Bewertungs- und Vermögensverlusten bei privaten und institutionellen Anlegern – wie Versicherungen und Pensionskassen – und bei den Banken selbst. Eine unmittelbare Folge davon war der stärkste Konjunktureinbruch seit den 1930er Jahren.

Mit der Vertrauenskrise im Welt-Finanzsystem war auch der Wohlstand breitester Bevölkerungskreise gefährdet. Daher intervenierten die Regierungen in Abstimmung mit den Notenbanken und schnürten Garantiepakete. Sie liehen den Akteuren auf den Finanzmärkten jenes Vertrauen, das man damals in Staaten noch uneingeschränkt setzen konnte und brachten so den brachliegenden Zwischenbanken-Kapitalmarkt wieder in Schwung. Die erforderlichen Bankenhilfspakete addierten sich in der Folge mit den Konjunkturpaketen und den Kosten für die unverzichtbare Aufrechterhaltung der sozialen Sicherungssysteme zu einer erdrückenden Belastung für die öffentlichen Haushalte.

Die Staatsverschuldung der Länder der Eurozone stieg im Durchschnitt um deutlich mehr als ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts an – bei einzelnen Staaten wie Irland sogar um das Doppelte. Der Sonderfall Griechenland machte ungelöste institutionelle Fragen der Euro-Zone offenkundig und zog in der Folge das Misstrauen der Rating-Agenturen und internationaler Anleihezeichner in die Rückzahlungsfähigkeit auch anderer Euro-Staaten nach sich. Aus einer Vertrauenskrise des Finanzsystems wurde eine Vertrauenskrise der öffentlichen Haushalte.

Bemerkenswert ist, dass von der massiven Erhöhung der Staatsschuld durch die Finanzkrise jene Staaten am meisten betroffen waren, in denen die Bankenregulierung nach angelsächsischem Muster ausgerichtet war, die mit einer regulatorischen Begünstigung hoher Fremdmittelhebel und entsprechend niedriger Eigenkapitalausstattung einhergeht.5 Verschont blieben hingegen zunächst fast alle „Emerging Economies“ Asiens und Südamerikas, aber auch die zentraleuropäischen Nachbarländer und die Türkei. Gerade jenen Staaten, die sich nicht an der uferlosen Deregulierung des Finanzsystems beteiligt hatten, blieb demnach das Ärgste erspart.

Reichen die bisherigen Finanzmarktreformen aus?

Angesichts dieser Diagnose wird offensichtlich, dass uns nur Änderungen am Fundament der Finanzmarkt-Architektur vor weiteren Krisen bewahren können. Dies scheint auch den für die künftigen Strukturen verantwortlichen Politikern unmittelbar nach Ausbruch der Krise klar gewesen zu sein, als sie sowohl auf globaler Ebene im Gremium der G20 als auch auf europäischer Ebene wie in den USA umfangreiche Maßnahmenpakete zur Finanzmarktreform schnürten. Trotz beachtlicher Fortschritte in so wichtigen Fragen wie einer gemeinsamen europäischen Bankenaufsicht wurden jedoch bis heute keine adäquaten Schritte zur grundsätzlichen Korrektur der konkret benennbaren Ursachen gezogen. Trotz der im reformierten Regulativ von Basel III geforderten erhöhten Eigenmittelquoten kann gerade in diesem entscheidenden Punkt noch von keiner echten Finanzmarkt-Wende gesprochen werden.

Die Spieltische dessen, was der deutsche Ökonom Hans Werner Sinn in Anlehnung an einen erstmals von John Maynard Keynes gebrauchten Begriff „Kasino-Kapitalismus“ nennt, werden längst wieder heftig frequentiert. An flüchtigen Kapitalmarktwerten orientierte Bank-Bilanzen produzieren Scheingewinne, die im Umweg über kurzfristige Eigenkapitalerhöhung wieder längere Fremdmittelhebel erlauben. Auch die sogenannten „Schattenbanken“ existieren weiter.

Am zahnlosesten ist die Umsetzung der anvisierten Reformen dort, wo es um die Begrenzung des Ausmaßes geht, in dem sich Banken verschulden und damit unkontrollierte Kre-ditgeldschöpfung betreiben können. Dies zeigt sich an der viel zu langsam einsetzenden Erhöhung der Eigenkapitalquoten. Erst 2018 (!) soll das Vielfache der Eigenmittel, bis zu dem Fremdmittel aufgenommen werden können, auf eine – noch immer viel zu hohe – Obergrenze von 33 limitiert werden, was einem „echten“ Eigenkapital-Prozentsatz von nur drei Prozent entspricht. Dies, obwohl sich kritische Experten darüber einig sind, dass die Obergrenze des Verschuldungsfaktors mit dem Zehnfachen des Eigenkapitals zu begrenzen wäre, wollte man das Bankensystem wirksam vor künftigen Zusammenbrüchen bewahren.

Der aus Vertretern großer Notenbanken zusammengesetzte Ausschuss für Bankenaufsicht bei der Baseler Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) gibt sich davon jedoch un-beeindruckt. Zwar werden die Qualitäten des erforderlichen Kernkapitals künftig genauer festgelegt und leichte Anhebungen der Eigenmitteldecke vorgenommen. Auch gibt es Fort-schritte hinsichtlich strengerer Eigenmittelvorschriften für Kreditgarantien (CDS) und Derivate. Am gefährlichen Prinzip der „Risikogewichtung“ aber wird nicht gerüttelt.

Viel zu groß ist nach wie vor das Vertrauen in die Messbarkeit künftiger Risiken und die damit verbundene Abhängigkeit vom Urteil der Rating-Agenturen bei der Festlegung der künftig benötigten Risikopolster. Dabei ist mittlerweile nachgewiesen, dass die Rating-Agenturen bei der Einschätzung der zu erwartenden Ausfallwahrscheinlichkeit von Verbriefungen und „synthetischen“ Wertpapieren von völlig falschen methodischen Annahmen ausgegangenen waren. Die tatsächlichen Ausfälle lagen um mehr als das Dreihundertfache höher als angenommen. Dennoch bleiben die Bonitätsnoten der Agenturen auch in Zukunft der entscheidende Maßstab der Risikomessung und einer entsprechend gewichteten Eigenmittel-Unterlegung der Bankbilanzen. Die Großbanken-Lobbys haben offenbar wirksame Arbeit geleistet und sichern sich ihre Spielwiesen für die nächste Welle an „Finanzinnovationen“, mit denen auch die kommende Regulierung wieder so weit wie möglich ausgereizt werden kann.

Gerade dies gibt aber Anlass zur Besorgnis. Denn nur tiefgreifende und daher auch spürbare, die Dimension der inflationär aufgeblasenen Finanzwirtschaft dämpfende Maßnahmen können uns nachhaltig aus der Gefährdungszone herausführen.

Ungelöst bleibt somit die Frage einer systematischen Rückführung des inflationär ausgeuferten Geldsystems auf verkraftbare Größenordnungen, die wieder im Einklang mit der realen Wertschöpfung stehen. An ihr führt schon deshalb kein Weg vorbei, weil die bisherige Bankensteuerung entlang der Maximierung von Eigenkapitalrenditen auf Basis immer dün-nerer Eigenmittelquoten eben nur vorübergehend erfolgreich sein konnte, indem die volkswirtschaftlichen Folgeschäden systemischer Risiken einfach ausgeklammert blieben. Dieses Spiel ist aber nicht wiederholbar, da die Folgekosten – wie oben bereits erwähnt – kein weiteres Mal mehr aufgebracht werden könnten.

Unzweifelhaft ist das eine unangenehme Nachricht für jene Geschäftsfelder des Bankensystems, die auf spekulative Finanzmarktprodukte fokussiert waren und sind. Erst recht, wenn als unabdingbarer Teil einer grundlegenden Reform auch die Durchleuchtung jenes ausufernden Geflechtes an „Schattenbanken“ angegangen wird, die allein in den USA in Sum-me mehr als das 1,3-fache des offiziellen Bankensystems ausmachen.7

Für die führenden österreichischen Banken und ihre familienunternehmerischen Kunden jedoch, die ihre Geschäftsmodelle zum überwiegenden Teil am klassischen Modell gesunder Regional- und Kommerzbanken ausgerichtet haben, brächte eine Finanzmarktreform, die überhöhte Fremdmittelhebel und unkontrollierte Kreditgeldschöpfung verhindert, deutlich mehr Vor- als Nachteile.

USA-Europa: Konfliktäre Finanzierungstraditionen

Europas Finanzsystem beruht traditionellerweise auf einer engen Verflechtung von Realwirtschaft und Banken. Die Bilanzen der Banken spiegeln die gesamtwirtschaftliche Dynamik wider, sie erfüllen als Dienstleister von Anlegern/Sparern und Kreditnehmern/Unternehmen ihre Kernaufgabe der Transformation von Risiken und Fristen. Stark vereinfacht gesagt: Banken nehmen Spargelder mit unterschiedlicher Veranlagungsdauer herein und machen dar-aus im Weg der Bündelung von Volumina sowie der Transformation von Fristen und Risiken Kredite für Unternehmen und Haushalte.

Im Gegensatz dazu ist das angloamerikanische Bankensystem immer schon stärker an Kapitalmärkten orientiert. Die Intermediation, wie die Umwandlung von Anlegergeldern in Ausleihungen auch genannt wird, spielt sich dort außerhalb der Bilanz von Banken über die Instrumente des Kapitalmarktes ab. Kapitalmarktprodukte wie Aktien und Anleihen werden von Anlegern gezeichnet, die aufgebrachten Gelder stehen den Begebern der Papiere (Emittenten) in unterschiedlichen Qualitäten und Laufzeiten zur Verfügung. Die damit befassten Investmentbanken sehen sich in der Regel im Unterschied zu traditionellen Geschäftsbanken weniger als Partner der Realwirtschaft denn als Spieler auf den Kapitalmärkten mit strikt finanzwirtschaftlich orientierten Unternehmenszielen.

Der ebenso unbestreitbare wie unverzichtbare Vorteil kapitalmarktorientierter Systeme liegt darin, dass sie Unternehmen bei der Aufbringung von Eigenkapital etwa über Aktienemissionen unterstützen können. In Kombination mit vorbörslichen Risiko-Kapitalmärkten für Venture Capital und Private Equity bietet das die Gewähr für eine ausreichende Versorgung der Unternehmen mit Expansionskapital. Es gibt eine Fülle empirischer Evidenz dafür, dass aus eben diesem Grund Standorte mit funktionierenden Kapitalmärkten gründungs- und innovationsfreundlicher sind und daher auch eine weitaus größere Arbeitsmarkt-Dynamik aufweisen.

Zweifellos begünstigte der Blick auf diese Vorzüge kapitalmarktorientierter Finanzierungsformen die weltweite Liberalisierung der Finanzmärkte. Gleichzeitig aber lenkte er jedoch von der Wahrnehmung möglicher Risiken einer ungezügelten Deregulierung ab. Europas Finanzwirtschaft und Wirtschaftspolitik übernahmen den angloamerikanischen Ansatz weitgehend kritiklos. Bedenken gegenüber möglicherweise kontraproduktiven Effekten einer planlosen Vermischung der gegensätzlichen Finanzierungskulturen kamen nicht auf. Geradezu euphorisch wurde jeder Schritt in Richtung „Entfesselung“ von lästigen Regeln begrüßt.

Als sichtbarstes Zeichen der Selbstaufgabe bewährter europäischer Traditionen ist wohl der Ersatz des dem Gläubigerschutz und dem Vorsichtsprinzip verpflichteten, traditionellen Bilanzierungssystems durch die kapitalmarktorientierten Bilanzierungsregeln des angelsächsi-schen Raumes (IFRS) zu sehen. Diese unterwerfen alle Vermögenspositionen schwankenden Marktwerten. Sie begünstigen dadurch in guten Zeiten Wert-Übertreibungen und verstärken in Zeiten der Abwärtsbewegung negative Trends.

Mitentscheidend für das Entgleisen des Finanzsystems war die zunehmende Dominanz des „Shareholder-Value“ als übergeordnetes Unternehmensziel. Dessen treibender Gedanke ist, dass nur eine nahtlose Verbindung der Entwicklung von Unternehmen mit den Interessen der Finanzinvestoren eine effiziente Allokation ökonomischer Ressourcen sicherstelle. Dementsprechend wurden die Verdienst-Anreize für Manager nicht mehr vorwiegend an nachhaltigen Resultaten, sondern in erster Linie an der Entwicklung des Börsenkurses ausgerichtet.

Die allzeit objektive Wertbestimmung durch Kapitalmärkte wurde durch wirtschaftstheoretische Grundüberzeugungen abgestützt, die bis heute den Mainstream-Lehrstoff an den Wirtschaftsfakultäten bestimmen und die weitgehende regulatorische Verselbständigung der Finanzmärkte argumentativ absichern.

Stellte dieser Ansatz zu Beginn noch eine willkommene Korrektur zu manchen eigentümerfeindlichen Management-Praktiken dar, wurde er im Lauf der Jahre zur Ideologie einer grundsätzlichen Überlegenheit finanzwirtschaftlicher gegenüber realwirtschaftlichen Kalkülen. Das Unternehmenssystem, die unternehmerische Wertschöpfung, wurde damit zum Objekt überwiegend kurzfristigen Finanzmarkt-Dispositionen degradiert.

Regionen mit ausgeprägt familienunternehmerischen Strukturen konnten sich diesem von den Kapitalmärkten ausgehenden Trend weitgehend entziehen und waren dadurch für die Krise oft besser gerüstet.

Unternehmensfinanzierung nach der Krise

Zahlreiche Unternehmen wurden von den Folgen der Finanzmarktkrise im Herbst 2008 völlig überraschend getroffen. Wegen akuter Liquiditätsprobleme kürzten Banken offene Kreditlinien, wo immer sie konnten, hatten sie doch aufgrund der hohen Kapitalverluste nur mehr eingeschränkte Möglichkeiten, weiterhin Kredite auszureichen. Obendrein zwang sie die prozyklische Regel der Risikogewichtung von Basel II dazu, die von rapide schlechter werdenden Ratings betroffenen Ausleihungen mitten im Absturz mit mehr Eigenkapital zu unterlegen. Darüber hinaus waren ihre Refinanzierungschancen auf den Kapitalmärkten bis zum Wirksamwerden der staatlichen Garantieprogramme stark eingeschränkt.

Auch bei den Kunden war durch den rapiden Wertverlust des veranlagten Kapitals und den Vertrauensverlust gegenüber den Banken das Zusammenhalten der Liquidität ein Gebot der Stunde. In Summe kam es jedoch zu wesentlich weniger Insolvenzen als erwartet. Zwar reagierten viele Banken mit schmerzhafter Liquiditätszurückhaltung und verärgerten ihre langjährigen Unternehmenskunden durch Kreditverknappung. Dann aber pendelte sich das Bankverhalten in eine Richtung ein, die überall dort, wo es verantwortbar schien, auf Kontinuität setzte und mit dem Kaufen von Zeit durch Streckung von Tilgungen und Laufzeiten bei Fremdkapital das Jahr 2009 zu überbrücken half. Nachdem Teile der Unternehmerwirtschaft durch ein prozyklisches – das heißt in diesem Fall: krisen-verstärkendes – Verhalten langjähriger Bankenpartner vor den Kopf gestoßen worden waren, hat sich mittlerweile das Verhältnis zu den früheren Hauptbanken in den meisten Fällen wieder stabilisiert.

Zu einer vollständigen Normalisierung der in vielen Fällen mittlerweile wieder weitgehend gut funktionierenden Bank-Kunden-Beziehungen wird es vermutlich erst wieder kommen, wenn es gelingt, eine Finanzmarktarchitektur zu schaffen, deren Erfolg nicht in der Scheinblüte spekulativer Geschäftsfelder sondern in ihrer Leistungsfähigkeit für die Realwirtschaft liegt. Gemessen an diesem Anspruch sind viele Großbanken in ihrer heutigen Ausformung überdimensioniert.

Ein Bankensystem mit mehr Bodenhaftung könnte auch jener schleichenden Deindustrialisierung entgegenwirken, die mit jeder einseitigen Kapitalmarktorientierung einhergeht. Nicht zufällig haben sich ja gerade jene Länder rascher erholt, die – wie etwa Deutschland – noch einen soliden Anteil der industriellen Wertschöpfung von deutlich über 20 Prozent am Bruttoinlandsprodukt aufweisen.

Für den rapiden Rückgang dieses Anteils auf weniger als zehn Prozent in den USA und England gibt es neben dem globalen Wettbewerb auch einen bisher weniger beachteten Grund, der mit den ausufernden, im doppelten Sinn überbewerteten Finanzsystemen dieser Länder zu tun hat: Während fast eineinhalb Jahrzehnten schien für nachdrängende Zukunftsbegabungen – von den Banken als „high potentials“ umworben – ein Job in der Finanz- und Bankwirtschaft das erstrebenswerteste Berufsziel zu sein, während die realwirt-schaftlich, technisch und sozialökonomisch ausgerichteten Studien als weniger attraktiv galten. Auch das mag sich nun ändern. Oder, wie es der ehemalige britische Wirtschaftsmi-nister Lord Peter Mandelson formulierte: „For the future, we need an economy with less financial engineering and more real engineering“.

Banken, die der Realwirtschaft dienen

In zahlreichen Gesprächen, die ich mit Eigentümern und Führungspersönlichkeiten zur aktuellen Finanzkrise geführt habe, kamen meine Gesprächspartner zur Schlussfolgerung, dass der entscheidende Beitrag, den Banken zur Nachhaltigkeit leisten können, im Bekenntnis zu einem weniger spekulativen und daher krisenresistenteren Finanzsystem liegt, das wiederum in erster Linie der Realwirtschaft dienen sollte. Dionys Lehner, erfolgreicher Unternehmer und Haupteigentümer der Linz Textil AG, brachte dieses Anliegen auf den Punkt: „Persönlich denke ich, dass das Übel darin liegt, dass der Finanzsektor als Dienstleister für die Realwirtschaft immer mehr begonnen hat, sich als wirtschaftliches Zentrum zu sehen. Das ist der fatale Irrtum unserer Zeit. Die Realwirtschaft müsste im Zentrum stehen und alles andere ist Dienstleistung dazu.“

Banken, die sich wegen geringerer Verschuldungsspielräume wieder auf ihre Kernfunktionen der Unternehmensfinanzierung und unternehmensnaher Dienstleistungen fokussieren, können ihren Kunden wie bisher alle zeitgemäßen Finanzdienstleistungen bieten. Sie nehmen lediglich jene Angebote aus dem Sortiment, die keinen erkennbaren Zusatznutzen für Unternehmen bieten oder rein spekulativen Zwecken des Finanzsystems selbst dienten.

Ein bezeichnendes Beispiel für eine Reihe von durchaus entbehrlichen Produkten der von Kapitalmarkteuphorie geprägten Jahre vor der Krise sind standardisierte, in Wertpapiere gebündelte Programm-Mezzanine für Unternehmen. Bis zur Finanzkrise wurden sie als Instrument des Eigenkapitalersatzes angepriesen, in Fonds gebündelt und an Anleger weiter-platziert („verbrieft“). Zwischen 2004 und 2007 wurden damit allein in Deutschland 500 Unternehmen mit einem ausgereichten Gesamtvolumen von etwa 4,5 Mrd. Euro finanziert. Als es in den Jahren 2012 und 2013 zur Rückzahlung des Großteils dieser endfälligen Ausleihungen kommen sollte, standen viele Unternehmen vor einem unlösbaren Problem. Denn seit der Krise waren Verbriefungsprodukte unverkäuflich geworden und zahlreiche Unternehmen in ihrer Rating-Einstufung noch so geschwächt, dass die erforderliche An-schlussfinanzierung in der gewünschten Qualität – nämlich als Nachrangkapital – kaum erhältlich war. Zusätzliche Probleme bereiteten standardisierte Vertragsklauseln, die ein indi-viduelles Eingehen auf die Kundensituation erschwerten. Viele der zu Zeiten einseitiger Kapitalmarktorientierung entstandenen Finanzinnovationen haben sich in vergleichbarer Weise als verzichtbar erwiesen.

Das übergeordnete Ziel: Investitionssicherheit

Jahrelang hatten die Regeln von Basel II eine derart strikte Trennung der Marktbearbeitung durch Kundenbetreuer von der Risikobeurteilung durch Risikoanalysten forciert, dass Risi-koentscheidungen letztlich ohne nähere Kenntnis des Kundenunternehmens fielen. Die Orientierung an Rating-bezogenen Zahlen schien wichtiger als Informationen, die auf Vertrauen und langjähriger Kunden- und Branchenkenntnis beruhen. Gerade diese sind jedoch zur Erarbeitung einer sachgerechten Risikoaussage unentbehrlich.

Banken, die den Eigenhandel zurückstellen und ihre Investitionen in synthetischen Wertpapieren zurückfahren, weil überhöhte Fremdmittel-Hebel der Vergangenheit angehören, werden damit ihren Bezug zur Realwirtschaft und zur unternehmerischen Wirklichkeit wie-der verstärken. Vor allem aber werden die unmittelbar für die Kunden zuständigen Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter der Banken nicht mehr unter dem unsinnigen Zwang stehen, gegen ihr besseres Wissen Finanzprodukte zu forcieren, die ihnen von anderen Profit-Cen-tern der Bank aufgedrängt werden. Auch im Bereich der Derivate werden vor allem jene Produkte im Mittelpunkt stehen, mit denen sich konkrete Transaktionen eines Unternehmens unterstützen lassen. Ganz von selbst kann sich dadurch die Kundenbeziehung wieder verbessern.

Der übergeordnete Nutzen aber, den ein vereinfachtes, auf seine Kernfunktionen konzentriertes Bankensystem für seine Kunden hat, ist seine geringere Krisenanfälligkeit. Denn es liegt im existentiellen Interesse der Unternehmen, die in den letzten Jahren unbeherrschbar gewordene Finanzwirtschaft durch eine neue Finanzmarktarchitektur gegen Systemkrisen abzusichern. Nur so entsteht wieder der für anspruchsvolle Innovations- und Investitionsprojekte notwendige, längerfristige Planungshorizont.

Wir haben uns in den letzten Jahren schon so sehr an Turbulenzen und ständig neue Erscheinungsformen der Krise gewöhnt, dass die Grundfunktionen eines soliden Geldwesens in den Hintergrund gedrängt wurden. Sonst wäre stärker aufgefallen, dass nicht nur das Bankensystem, sondern auch die Börsen als Plattformen für Risikokapitalmärkte systemisch gefährdet sind. Gemeinsam mit den ihnen vorgelagerten, vorbörslichen Risikokapital-Märkten sind sie für jeden Wirtschaftsstandort von strategischer Bedeutung, weil Wachstumsfinanzierungen – vor allem im Technologiebereich – mit klassischen Kreditinstrumenten nicht finanzierbar sind. Markt- und Technologiefenster stehen meist nur für kurze Zeit offen. Hohe Risiken, die Notwendigkeit, rasch zu strategischer Marktstärke zu kommen, der immer höhere Stellenwert immaterieller Investitionen in Forschung und Entwicklung: all das macht es unabdingbar, den wert-schöpferischen Aufbauprozess von jungen Technologie-unternehmen mit Risikokapital in Gang zu halten.

Derzeit sind allerdings die Risiko-Kapital-Märkte trotz hoher Summen investitionsbereiten Kapitals wegen des massiven Vertrauensverlustes, den auch die Börsen erlitten haben, stark angeschlagen. Als Folge bleiben neue Börsengänge weitgehend aus, womit den Risikokapital-Fonds eine ihrer wichtigsten Möglichkeiten fehlt, aus einer getätigten Beteiligung erfolgreich auszusteigen.

Von einer Finanzordnung, die mit weniger Volatilität, weniger irrationalen Wertschwankungen und solideren Bilanzierungspraktiken einhergeht, würden daher letztlich auch die Börsen profitieren. Es lohnt sich, auch in diesem Bereich aus den Fehlern der letzten Jahre Konsequenzen zu ziehen und auf der Basis realistischer Business-Modelle wieder Anlegerver-trauen für Risikokapital zurückzugewinnen.

So paradox es klingt: Die Marktdynamik an den Börsen wird erst dann wieder realwirtschaftlichen Nutzen stiften und das Wachstum der Unternehmen fördern, wenn es gelingt, die derzeitige Dysfunktionalität des Kapitalmarktsystems zu korrigieren.

Finanzmarktökonomie im Rahmen einer erneuerten Wirtschaftsordnung

Es gibt keine wertneutrale Entscheidung über die konkrete Gestaltung eines Wirtschaftssystems. Eine erfolgreiche Wirtschaftsordnung ist deshalb auch kein Selbstläufer, wie uns das die Idealbilder von einer perfekten Marktökonomie vorgegaukelt haben. In diesem Sinn dürfen wir uns nicht auf die sogenannte „unsichtbare Hand“ verlassen – es bedarf einer Reihe von Voraussetzungen sozialer und politischer Natur, damit sie zur gewünschten Wirkung kommt.

Das Bild von der „unsichtbaren Hand“ des Marktes wurde von Adam Smith geprägt, dem großen Moralphilosophen und politischen Ökonomen, der mit seinem bahnbrechenden Werk über den „Wohlstand der Nationen“ („Wealth of Nations“) die unstrittigen Vorteile freier Märkte erstmals in einem geschlossenen Denkansatz schilderte und damit den Aufbruch der Zivilisation in die moderne Industriegesellschaft einläutete.

Adam Smith tat dies als Aufklärer, der sich gegen die eingefahrenen Vorrechte des Feudalismus einerseits und der Zünfte und Zollvereine andererseits wehrte, um die Vorteile selbstverantworteten, selbständigen Wirtschaftens im freien Austausch über Ländergrenzen hinweg herauszuarbeiten: In freier Preisbildung lässt sich in einer arbeitsteiligen Unterneh-merwirtschaft die sparsamste Verwendung knapper Ressourcen und die effizienteste Verteilung der Güter und Dienstleistungen an die Konsumenten organisieren. In diesem Geist entstanden die industriellen Unternehmen der Gründerzeit.

Die dabei aus dem Wirken unzähliger Einzelner entstehende „spontane Ordnung“, wie sie der aus Österreich stammende Nobelpreisträger Friedrich August Hayek später nannte, kann von keiner zentralen, planenden Intelligenz übertroffen werden. Und sie funktioniert, ohne dass der Einzelne dabei ständig an das Ganze denken muss – es genügt, wenn er im durchaus eigennützigen Interesse, seinem Lebensunterhalt zuliebe, marktgängige Leistungen für seine Kunden erbringt. Dass daraus im Idealfall eine ständige Optimierung der Ressourcenverteilung folgt, ist nicht sein unmittelbares Verdienst, sondern eben jenes der richtigen institutionellen Ordnung der Freiheit.

Oder aber – in einem nicht zwangsläufig metaphysischen Sinn – das Verdienst der „unsichtbaren Hand“. Sie steht symbolisch für die Tatsache, dass das individuelle Streben aller Wirtschaftsteilnehmer am Ende zu erhöhter Wertschöpfung führt. Über den Umweg des Steuer-und Sozialsystems ist sie auch für jene von Nutzen, die nicht unmittelbar am Marktgeschehen teilnehmen – etwa weil sie zu jung oder zu alt sind, oder zu schwach, um sich leistend einzubringen.

Adam Smith war keinesfalls der Verteidiger einer uneingeschränkten Herrschaft der Märkte. Er wusste, dass der Markt nicht aus sich selbst heraus die Voraussetzungen für sein Funktionieren sicherstellen kann. Denn dazu bedarf es im Hinblick auf das Rechtssystem, das Bildungssystem und das Sozialsystem einer gut funktionierenden politischen Ordnung – also dessen, was wir heute als eine demokratische Bürgergesellschaft beschreiben. Ein solches Verständnis der Wirtschaftsordnung als Teil einer politischen Ordnung (daher das Wort: „Ordnungspolitik“) liegt letztlich dem europäischen Modell einer „Verantworteten Marktwirtschaft“ zugrunde.

Die Anhänger des Marktfundamentalismus haben allerdings unter dem Einfluss einer weit über das Ziel schießenden Liberalisierung der Finanzmärkte deren weitgehend regelfreie Wirtschaftswildnis zusehends mit einer Wirtschaftsordnung verwechselt. Sie konnten so ihren Eigennutz ungezügelt vorantreiben und sich immer noch einbilden, damit der Allge-meinheit zu dienen. Deshalb wohl zeigte sich Lloyd Blankfein, CEO der Investmentbank Goldman Sachs, so überrascht über die Kritik an seiner Äußerung, die Investmentbanker erfüllten mit ihrem Tun in einem gewissen Sinn sogar „Gottes Auftrag“.

Auch bei Friedrich A. von Hayek findet sich die Warnung davor, „dass sich in einer freien Gesellschaft auch moralische Maßstäbe herausbilden können, die, wenn sie allgemein werden, die Freiheit und mit ihr die Grundlage aller moralischen Werte zerstören werden“.17 Und Hayek zieht daraus einen Schluss, den wir am wenigsten von einem Ökonomen erwarten, der immer wieder als Säulenheiliger einer unregulierten Finanzwirtschaft angerufen wird, ohne sich dagegen wehren zu können. Zunächst meint er, im System der freien Unternehmerwirtschaft sei es „möglich, dass jeder einzelne, während er seinen Mitmenschen dient, das für seine Zwecke tun kann“. Dann aber ergänzt er: „Doch das System selbst ist nur ein Mittel, und seine unendlichen Möglichkeiten müssen in Dienst von Zielen genützt werden, die für sich stehen“.

Selbst aus der weitestgehenden liberalen Sicht ist also das Wirtschaftssystem Mittel zum Zweck, aber kein Selbstzweck. Dies legt den Schluss nahe, dass sich die zutiefst systemischen Ursachen der Finanzkrise nur durch eine grundlegend neue Finanzmarktordnung bekämpfen lassen.

Es ist zu hoffen, dass die Zeit, in der die Finanzmarkt-Ökonomie wegen ihrer behaupteten Effizienz ein Primat vor der Politik beansprucht hat, mit dieser Krise vorbei ist. Weil wir uns aber schon allzu sehr an die faktische Selbstregulierung der Geldwirtschaft gewöhnt hatten, entstand während der letzten Jahre ein ordnungspolitisches Vakuum. Dieses Vakuum gilt es nun durch einen neuen Ordnungsrahmen zu füllen. Innerhalb dieses Rahmens ist auf der Basis einer erneuerten Finanzmarktökonomie eine Finanzmarktordnung zu schaffen, in der Familienunternehmen mit ihrer stabilisierenden Funktion für Wirtschaft und Gesellschaft auch in Zukunft gute Entwicklungsbedingungen vorfinden.

In den Worten von Richard David Precht, dem erfolgreichen Autor populär-philosophischer Bestseller, liest sich der Appell für den überfälligen Neubeginn so: „Wenn ich die Augen schließe und träume, träume ich nicht von einer Welt ohne Gier. Ich träume von einer Welt, in der die Gier der einen die Gier der anderen in Schach hält. ‚Ordnungspolitik‘ nannte dies Walter Eucken, der Vater der Sozialen Marktwirtschaft. Wie schade, dass sie so aus der Mode gekommen ist! Heute müsste Ordnungspolitik dafür sorgen, dass eine solche Krise gar nicht entsteht.“

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