die furche - 205

Welt geht nicht verloren

 

Das österreichische „Wort des Jahres“ war heuer so gar nicht nach meinem Geschmack. Noch im Vorjahr landete die „Willkommenskultur“ auf dem ersten Platz – diesmal jedoch fiel die Wahl auf das aus nicht weniger als 51 Buchstaben bestehende semantische Ungetüm „Bundespräsidentenstichwahlwiederholungsverschiebung“. Wie erleichternd, dass das trotzdem gut ausgegangen ist!

In England und Deutschland hat es „postfaktisch“ als internationales Wort des Jahres aufs Podest geschafft. Dieser Begriff, den wir vor einem Jahr noch kaum gekannt haben, hat eine semantische Blitzkarriere hingelegt. Er steht für die in Zeiten wuchernder Internet-Medien vordringende Praxis, Gerüchte und Gefühle vor Faktentreue zu stellen. Sein Gebrauch soll sich im Vergleich zum Vorjahr um mehr als das Zwanzigfache erhöht haben.

In der Schweiz lautet das Wort dieses Jahres „Filterblase“, eine Bezeichnung für jene mit dem Vordringen der Sozialen Medien sich herausbildenden „Echokammern“, in denen man in seinen Ansichten und Vorlieben ständig verstärkt wird und sich damit in einer Nische von Gleichgesinnten in der Mehrheit fühlt. Abseits der klassischen Medien wird Meinungsbildung damit immer mehr zur Angelegenheit vernetzter Gruppen, deren Gleichschaltung – etwa bei Facebook – durch entsprechende Algorithmen sogar noch verstärkt wird.

Post-faktisches wie Filterblase beschreiben eine neue demokratiepolitische Problemlage, zu der als dritter Begriff jene „illiberale Demokratie“ passt, über die wir uns auch erst seit diesem komplizierten Jahr 2016 Sorgen machen müssen – in Polen etwa oder in der irrlichternden Spielart des egomanischen US-Präsidenten.

Alle diese Wortschöpfungen haben mit tiefgreifenden Veränderungen unserer gewohnten politischen und medialen Systeme zu tun, deren Repräsentanten sich angesichts der komplexen Weltlage in permanenter Erklärungsnot zu befinden scheinen. Ihre vielfach greifbare Ratlosigkeit macht aus unbestrittenen Alleserklärern mit Misstrauen gestrafte Eliten, denen man nichts mehr und deshalb alles zutraut.

Wie gut, dass uns nun Tage bevorstehen, an denen wir alles Post-faktische bei Seite schieben und uns abseits der im Alltag oft so belastenden Informationsflut auf eine Nachricht freuen dürfen, die uns immer wieder neu erscheint, obwohl – oder gerade weil – sie uns doch schon so vertraut ist.

Wir feiern die jährliche Wiederkehr der Chance auf einen Neubeginn, symbolisiert im neu geborenen, Gottes-ebenbildlichen Geschöpf, das irgendwo am Rand der Welt unter bescheidensten Umständen ins Leben gekommen ist und doch das Potential in sich hat, alles zum Guten zu wenden. Prä-faktisch sozusagen, unscheinbar und geschichtsmächtig zugleich. So wie es in einem der schönsten Weihnachtslieder klingt: Welt ging verloren, Christ ist geboren. Es ist die Zeit, in der wir wiederentdecken dürfen, was wir miteinander vermögen und Vertrauen tanken können in die Kraft zur Veränderung.

22. Dezember 2016

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