die furche - 143

Das lange 20. Jahrhundert

 

Soviel Geschichte war noch nie. Permanent verwöhnen uns die Medien mit Analysen und Berichten über historische Wendepunkte. Unzählige Publikationen beleuchten das Geschehen rund um den Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor hundert Jahren, erinnern an den Beginn des Zweiten Weltkrieges vor fünfundsiebzig und die amerikanische Invasion in der Normandie vor siebzig Jahren. Und schließlich, nicht zu vergessen, reiht sich auch der Fall der Mauer vor einem Vierteljahrhundert in die Kette der Ereignisse, die das Weltgeschick entscheidend mitbestimmt haben.

Im Grunde geht es bei all diesem höchst anschaulichen, kollektiven Geschichtsunterricht um nichts weniger als eine Gesamtschau des Zeitraumes, den wir „das kurze 20. Jahrhundert“ nennen. So bezeichnete erstmals der britische Historiker Eric Hobsbawm – er hatte jüdische Wurzeln und verbrachte seine Kindheit in Wien – in seiner Trilogie über „Das Zeitalter der Extreme“ die Zeit vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 bis zum Ende des Kalten Krieges 1989. Zum Ausgleich lässt er „das lange 19. Jahrhundert“ schon mit der französischen Revolution 1789 beginnen und erst mit jener europäischen „Urkatastrophe“ enden, die der Beginn des ersten Weltkrieges für „Die Welt von Gestern“ (Stefan Zweig) bedeutete.

Gespräche in Freundesrunden drehen sich dieser Tage mehr als sonst um die Deutung der Ereignisse von damals. Die hohe Qualität, mit der die besten Historiker das Panorama der Geschehnisse vor uns ausbreiten, macht Lust auf mehr von dieser lebendigen, literarischen, lebensnahen Geschichtsschreibung, wie sie Christopher Clark („Die Schlafwandler“), Philipp Blom („Der taumelnde Kontinent“), Manfried Rauchensteiner („Der Krieg der Großväter“) oder Herfried Münkler („Der Große Krieg“) bieten.

Noch vor wenigen Monaten konnten wir allerdings nicht ahnen, dass gerade in diesem Gedenkjahr so viele neue Krisenherde entstehen würden, die ausnahmslos enge Bezüge zur damaligen Zeit aufweisen. Das gilt sowohl für die Ukraine/Russland-Krise als auch – und vielleicht noch mehr – für die Ereignisse im Nahen Osten und im Arabischen Raum. Wenn die von den Kolonialmächten England und Frankreich mit dem imperialen Lineal gezeichneten Grenzen im Irak, in Libyen oder in Syrien nun plötzlich aufbrechen, wird uns mit einem Mal der Zusammenhang mit den Ereignissen rund um den Zerfall des Osmanischen Reiches deutlich, der seinerzeit ursächlich für die Unruhen im Süden der Habsburger-Monarchie war. Plötzlich wird tieferes Wissen um geschichtliche Fügungen und Verwerfungen zum Schlüssel für das Verständnis aktueller Auseinandersetzungen.

Wir hätten uns so gerne an den verführerischen Gedanken von Francis Fukuyama gewöhnt, mit dem Mauerfall und dem Beginn einer nicht nur handelspolitischen sondern auch menschenrechtlichen Globalisierung sei so etwas wie „Das Ende der Geschichte“ eingeläutet worden. Stattdessen müssen wir uns über die Frage Gedanken machen, ob das vermeintlich so kurze Zwanzigste Jahrhundert vielleicht noch gar nicht vorbei ist.

03. Juli 2014

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